Kinderzeit


Von der Knabenzeit im Elternhause wissen wir sonst kaum etwas, da der Philosoph später nur sehr selten davon zu erzählen pflegte. Die Sattlergasse führte, zwischen Getreidespeichern der Großhändler hindurch, nach der "Insel Venedig", einem auf allen Seiten mit Gräben umgebenen viereckigen Platze. Hier und auf den "Holzwiesen" am Pregel mag Immanuel als Knabe oft gespielt haben. Eine von den wenigen Überlieferungen aus seiner Kinderzeit bezieht sich auf die Geistesgegenwart, mit der er sich, als er einst einen solchen Graben auf einem ins Rollen geratenen Baumstamm überschreiten wollte und ins Wasser zu fallen drohte, dadurch rettete, dass er einen Gegenstand jenseits des Grabens fest ins Auge faßte und dann gerade darauf los lief. An seinen fünf Geschwistern (zwei weitere starben früh, noch ehe sie das erste Lebensjahr vollendet hatten) wird er wohl kaum Gespielen gehabt haben. Denn die älteste Schwester Regina war fünf Jahre älter, während die drei ihm folgenden Maria Elisabeth, Anna Luise und Barbara drei, bzw. sechs und siebeneinhalb Jahre jünger als er waren. Sein einziger Bruder Johann Heinrich aber erblickte das Licht der Welt erst, als Immanuel bereits im zwölften Lebensjahre stand.

Die erste Schule, die der "kleine Immanuel besuchte, war die in der Hinteren Vorstadt, etwa sieben Minuten von seinem Elternhause gelegene Elementarschule beim St. Georgen-Hospital, einem schon 1329 von den Altstädtern gegründeten Stift für alte Leute, die sich darin einkaufen mußten. Sie hatte nur einen Lehrer, zugleich Kantor und Organist an der noch aus vorrefor-matorischer Zeit stammenden Kirche, der die Kinder im Lesen, Schreiben, etwas Rechnen und "Christentum" unterrichtete; Schulgeld wurde indes auch hier, ausgenommen von den Alier-ärmsten, entrichtet. Wer weiß, wie lange Immanuel diese Schule besucht haben würde, hätte nicht ein besonderer Umstand eine glückliche Wendung herbeigeführt.

Seine Mutter besuchte als fromme Christin mit ihren älteren Kindern oft die Bet- und Bibelstunden des Doktors der Theologie Franz Albert Schultz, welcher der Sache des Pietismus einen gewaltigen Aufschwung gegeben hatte, seitdem er 1731 als Konsistorialrat und Pfarrer an die Altstädtische Kirche in Königsberg gekommen war. Dieser für die Entwicklung des religiösen und geistigen Lebens in ganz Ostpreußen bedeutsame Mann, von dem wir bald noch mehr hören werden, wurde auf seine eifrige Zuhörerin aufmerksam, besuchte öfters das Handwerkerhaus in der Sattlergasse und lernte so auch den aufgeweckten kleinen Immanuel kennen. Er redete den Eltern zu, ihn studieren zu lassen und zu dem Zweck in das erst vor wenigen Jahrzehnten begründete Gymnasium Fridericianum zu schicken, dessen Leitung er (Schultz) selbst demnächst übernehmen sollte. Der Mutter ward damit gewiß ein Lieblingswunsch erfüllt, aber auch der Vater war gern bereit, dem begabten Sohne eine bessere Ausbildung zu geben, als er selbst sie genossen hatte. So trat bald nach Ostern 1732 der achtjährige Knabe in das heute noch als "Friedrichskollegium" bestehende Collegium Fridericianum seiner Vaterstadt als Schüler ein.


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