Selbsthilfe


Vor ein paar Jahren noch hätte ich einfach gesagt, jeder Nekrolog, den die 'Neue Freie Presse' einem der Ihren hält, schaffe das Gefühl: wie gut, dass er das nicht erlebt hat! Die Toten der 'Neuen Freien Presse', hätte ich gesagt, sind noch nicht unter der Erde und müssen sich schon umdrehen. Ich hätte die Lumpenparade betrauert, mit der sich Herr Benedikt an dem Andenken seines toten Mitherausgebers rächt, der eine gewalttätige, geschmacklose und aufdringliche Methode der Bereicherung nicht geliebt und der die deutsch-böhmische Hausehre des Blattes über die volks wirtlichen Interessen gestellt hat. Die unperspektivische Methode dieser Beileidsprotzerei hätte ich enthüllt, die einen Mistbauer auf einem Trauerwagen zeigt, der vor jedem Hause einer Stadt halten läßt und ins Tor hineinruft: Nichts zu kondolieren? Wöge die 'Neue Freie Presse' das Beileid, das ihr gespendet wird, anstatt es zu zählen, so wäre der Eindruck ein imposanterer: der zehnte Teil sähe nach mehr aus, man glaubte, zehntausend hätten kondoliert. So, da jeder Stiefelputzer genannt wird, zählt man nach, kriegt gerade noch tausend heraus und sagt sich, dass das kein allzu stattliches Gepränge ist. Besonders, wenn man bedenkt, dass tatsächlich jeder Mensch, der in einem österreichischen Wohnungsanzeiger steht, bloß seine Karte schicken muß, um am andern Tag seinen Namen in der 'Neuen Freien Presse' zu finden. Ich kann mir, so hätte ich damals gescherzt, das Entsetzen des überlebenden Herausgebers der 'Neuen Freien Presse' ausmalen, wenn ihm einmal, bei einem traurigen oder freudigen Anlaß, eröffnet würde, dass sämtliche Kundgebungen, die er aus der Leopoldstadt erhielt, von mir verfaßt waren und dass ich nur für die Teilnahme der Provinzen keine Verantwortung übernehme. »Es kondolierten uns noch Herr Farkas Steiner in Nagy-Körös und Herr Jakob Pocker in Husiatyn«. Das war kürzlich als Nachtrag zu lesen. Und kaum hatten wir uns von diesem Schlage erholt, wurde uns mitgeteilt, dass auch die Präsidentin und die Schriftführerin des Brigittenauer Israelitischen Frauenwohltätigkeitsvereins kondoliert haben. Und kaum war dies geschehen, so ereignete sich etwas, worauf wir, selbst nach allem, was vorhergegangen war, nicht gefaßt sein konnten. In einer durch ihre Schlichtheit packenden Notiz, wurde uns gemeldet, dass »auch cand. med. Herr Rudolf Taussig aus Prag, ein Neffe des Verblichenen, dem Begräbnis beigewohnt« habe. Er war vermutlich, als er seinen Namen in der Liste nicht gefunden hatte, in tiefe Trauer verfallen und hatte immer wieder ausgerufen: »Armer Onkel, jetzt bin ich eigens nach Wien zum Begräbnis gefahren, und muß das erleben! Das wäre unter deiner Redaktion nicht möglich gewesen!« Eine verhängnisvolle Unterlassung, die umso unbegreiflicher war, als jene andere Liste, in der die Kränze der Neffen und Nichten aufgezählt waren, an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Da lasen wir unter anderm: »Unserem einzig guten Onkerl in Liebe und Dankbarkeit — Luigi, Lisel und Resel.« »Unserem lieben guten Onkerl in Liebe und Dankbarkeit — Nandy, Resel und Berta.« »Unserem teuren, herzensguten, unvergeßlichen Onkel — Milly und Edi.« »Unserem lieben, guten Onkerl in treuer Liebe — Fritz und Mizzi.« »Meinem unvergeßlichen, einzig guten Schwager ...«

Genug! rufe ich jetzt, es ist genug des Unfugs! Wir wollen einem Weltblatt, das uns mit seiner Familienwärme und den Dünsten seiner Unkultur die Gehirne verpestet, ganz anders zu Leibe gehen, als zu einer Zeit, da es uns bloß die wirtschaftliche Sicherheit zu gefährden schien. Es muß ein Ventil der Empörung geschaffen werden! Der Oberste Gerichtshof ist nicht weit genug gegangen, als er erlaubte, ein Blatt straflos Hundsblatt zu nennen. Brachiale Vergeltung muß in einem Fall erlaubt sein, in dem uns mitgeteilt wurde, dass die Männer aus Nagy-Körös und Husiatyn kondoliert haben. Brachiale Vergeltung ist unwirksam und uninteressant, wenn sie jener übt, dessen Ehre von einer Zeitung verletzt wurde. Die Ehre mag ein Weilchen noch — als Kinderspiel für Gesetzgeber — »Rechtsgut« bleiben und sie mag nach Herzenslust überschätzt werden: ihr Schatz wiegt nichts neben den hundertmal heiligeren Kulturgütern, die von jedem Atemzug der Tagespresse beleidigt werden, nichts neben der Reinheit der Luft, die ein einziges Morgenblatt vergiftet. Ehre kann jeder Trottel haben; nur wenn sie von einem größeren Trottel verletzt wurde, sollte sie sich wehren dürfen. Es ist ganz gleichgiltig, ob einer in der Presse beleidigt wird, und es kann Feigheit sein, eine solche Beleidigung mit physischer Gewalt zu rächen. Aber es ist wertvoll, eine allgemeine Schmach so unerträglich zu finden, als ob man allein von ihr betroffen wäre, und es ist heroisch, für ein allgemeines Interesse seine Person gegen eine Person einzusetzen. Und wahrlich, im Fall der Männer aus Husiatyn und Nagy-Körös ist jeder von uns beteiligt! In welcher geistigen Atmosphäre leben wir, dass man uns dergleichen ungestraft bieten kann? Das geschriebene Wort reicht längst nicht mehr aus. Seine künstlerische Form schadet nur seiner ethischen Wirkung. Gegen das Wort des Journalisten, das bloß den gemeinen Inhalt und darum keine Form hat, kommt nur die Faust auf. Die Leibeigenschaft, in die uns der Liberalismus gebracht hat, ist weiß Gott die schlimmere. Es ist Geisteigenschaft, in der das Volk, in der die Höchsten selbst zu Füßen eines Machthabers liegen, dessen Kulturfeindlichkeit durch den Mangel an Tradition umso heftiger und durch den Schein einer Kulturliebe umso gefährlicher ist. Ein neuer Typus von Tyrannenmörder wird entstehen. Mindestens werden sich beherzte Männer finden, die während einer Artikelserie über den Männergesangsverein, nach einem Feuilleton des Herrn Paul Goldmann, während einer Enquete über das Recht des Nichtrauchers, nach einem Concordiaballbericht, nach der fünfhundertsten Aufführung der »Lustigen Witwe«, bei Blatterngefahr, während der Kondolenzen beim Ableben eines Herausgebers, in Hochzeitsjubel und bei Trauerklagen, in die Redaktion hinaufgehen, den nächstbesten Kerl, dessen sie habhaft werden können, schütteln und ihn fragen, wie er das mit Herrn Ackerl auf der Amerikareise gemeint habe, oder ob es ihm damit ernst sei, sämtliche Schmarotzer aufzuzählen, die bei einem Gschnasfest anwesend waren, oder ob er es aufrecht halte, dass die Herren Farkas Steiner und Jakob Pocker kondoliert haben. Und ehe noch eine entschuldigende Antwort erfolgt, müßten rechts und links Ohrfeigen sausen, dass die Rotationsmaschinen beschämt innehalten ... Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht so gegen den Mist, den sie aufwirbeln, endlich unser Geistesleben zu schützen imstande wären!

Karl Kraus.

 

 

Nr. 244, IX. Jahr

17. Februar 1908.


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