Der von Köpenick und der im Grunewald
Wilhelm Voigt, der »Hauptmann von Köpenick«, ist im Gefängnis an einem unheilbaren Brustleiden erkrankt, sein Begnadigungsgesuch, das die Gefängnisverwaltung befürwortet hat, ist vom deutschen Kaiser abgewiesen worden, Das ist grauenhaft. Aber grauenhafter ist, dass Deutschlands literarische Geister bereits alle Gefühlswärme für »den im Grunewald« verbraucht haben und von keiner Berliner Revue zur Empörung eingeladen werden können. Ich halte das Schicksal des prächtigen Alten, der aus Notwehr zum satirischen Genie wurde, des Mannes, den die Gesellschaftsordnung so zermürbt hat, dass er sie nur mehr zum Narren halten konnte, für bejammernswerter als das eines Vaterlandsretters, der den Bürgermeister von Köpenick höchstens durch den Vorwurf der Normwidrigkeit eingeschüchtert hätte. Und ich halte ihn für einen ungleich begabteren, liebenswerteren, freieren Geist als den im Grunewald, wenn ich auch gerne zugebe, dass der Inhalt einer Gemeindekasse bei weitem nicht so wertvoll ist wie der Inhalt eines Zettelkastens. Unsere Zivilisation hat alle Garantien dafür geschaffen, dass einem Götz von Berlichingen heute nichts anderes übrig bleibt als den Ratsherren von Köpenick das Geld abzunehmen. Dagegen hat sie einem etwa wiedererstandenen Hutten alle Freiheit gelassen, etwas gewagt oder nicht gewagt zu haben, je nachdem sich die Chancen eines Gerichtsverfahrens stellen. Der Fall des ersten bleibt die Sensation eines Tages, und wenn Götz sterbend die Worte spricht: »Schließt eure Herzen sorgfältiger als eure Tore. Es kommen die Zeiten des Betrugs«, so spielt er am Ende auf den Fall des zweiten an, der die Gemüter Deutschlands nachhaltiger erregt. Der im Grunewald war eine bessere Stütze der Gesellschaftsordnung als der von Köpenick, und darum haben sich endlich auch die Anarchisten unter den deutschen Schriftstellern entschlossen, für ihn einzutreten. Ihm wird man es zu verdanken haben, dass der § 175, der beinahe abgeschafft worden wäre, verschärft werden wird, und darum begeistern sich auch die sexuellen Libertiner für ihn. In jenem 'Morgen', vor dem es der deutschen Kultur graut, ist ihm einer von diesen und jenen gegen mich beigesprungen. »Auf die Gefahr hin, seine Mitarbeiterschaft an der 'Fackel' zu verlieren«, müsse er, meint er beherzt, jetzt gegen mich Front machen. Ich glaube, dass hier ein Riß durch die Kausalität geht. Das Frontmachen scheint mir nicht so sehr Grund als Folge zu sein, wenn man nämlich »Mitarbeiterschaft« nicht als ein regelmäßiges Wiederempfangen von Manuskripten, die sich beim besten Willen nicht redigieren lassen, auffaßt. Dass sich in diesem Verhältnis eines Mitarbeiters zur 'Fackel' nichts ändern wird, wenn er mir nur weiter Manuskripte sendet, darüber kann ich ihn beruhigen. Bedenkt man aber, dass diese unter voller Wahrung der stilistischen Individualität des Autors schon jetzt in der 'Zukunft' ein warmes Eckchen finden, so wird das Frontmachen vollends erklärlich. Dass man dabei so lange an mich anerkennende Briefe schreiben kann, bis die letzte enttäuschte Hoffnung einen zur öffentlichen Berichtigung seines Urteils zwingt, versteht sich von selbst. An eine ernsthafte polemische Absicht gegen mich kann ich nicht glauben. Ich bin so größenwahnsinnig, zu meinen, dass das Größenwahn wäre. Denn man traut mir im Grunde doch die Fähigkeit zu, einem so übers Maul zu fahren, dass der Beißapparat unbrauchbar wird. Ich würde dies auch, wenn sichs die Berliner Boheme einfallen lassen sollte, zudringlicher zu werden und sich mit ihren heiligsten Grundsätzen für den im Grunewald aufzuopfern, in einer noch nie erlebten Weise besorgen. Es wäre schade um die Berliner Boheme. Ich würde zum Zeichen der Trauer um sie meine Haare wachsen lassen und schwarze Fingernägel tragen. Dass ich »als anständiger Publizist« gerichtet bin, weil ich die schwere Erkrankung des Mannes bezweifelt habe, der die schwerere Erkrankung des Fürsten Eulenburg bezweifelt hat, das zu glauben ist nicht einmal die Redaktion des 'Morgen' dumm genug. Aber ich habe den Mann auch »denunziert«, der das Privatleben ganzer Grüppchen der zivilen und militärischen Gerichtsbarkeit denunziert hat. Ich habe ihn in dem Augenblick angegriffen, »wo er von der Staatsgewalt in seiner publizistischen Tätigkeit gefährdet wird.« Ich hab's gewagt; aber mich entschuldigt wirklich der gute Glaube, dass die Staatsgewalt dazu da sei, einen in einer publizistischen Tätigkeit zu gefährden, die den Nachweis der sexuellen Unzulänglichkeit der Flügeladjutanten bezweckt. Hoffentlich ist der Vorwurf des Denunziantentums der schlimmste, der von den Verehrern des im Grunewald gegen mich erhoben wird. Ich soll durch meine Erledigungsschrift »das Material der Verteidigung beschmutzt und zu entwerten gesucht, das Material der Staatsanwaltschaft gesichtet und vermehrt« haben. Habe ich's getan, so bin ich stolz darauf, und würde vor Gericht nicht sagen, dass ich's eigentlich nicht getan habe. Denn selbst wenn die Beschmutzung des bayrisch wirkenden Bernstein nicht eine Reinigung des Grafen Moltke bedeutet hätte, so gehöre ich gottseidank nicht zu den liberalen Kretins, die eine gute Sache, die der Staatsanwalt führt, für verpestet halten müssen. Und in jedem Zug steht mir die Art, wie dieser Staatsanwalt seine Sache geführt hat, auf einem höheren geistigen und moralischen Niveau als die Art jener Verteidigung. Dabei brauche ich gar nicht erst auf die Schwachköpfigkeit eines Vorwurfs hinzuweisen, durch den mir eigentlich imputiert wird, ich sei der Berliner Staatsanwaltschaft in einem Zeitpunkt beigesprungen, als von ihrem Eintreten in die Sache Moltke noch gar nicht die Rede war. Meine Schrift war vor dem Urteilsspruch des Schöffengerichts geschrieben, und ist zwei Tage danach erschienen. Ich glaube nicht, dass je einer ehrlicheren Erregung spontanerer Ausdruck gegeben wurde. Sein künstlerischer Wert wurde in einem Privatbrief an mich gewürdigt. Dass sein ethischer Wert in einem Artikel herabgesetzt wird und dass meine »kulturelle Sonderstellung unter den Publizisten« mich nach einem Monat schon zu nichts anderem als zur »Entrüstung über die Korruption der Wiener Tagespresse« befähigt, weckt mir trübe Gedanken über den ethischen und kulturellen Wert einer deutschen Boheme, die ihr bißchen Hirnschmalz an die Verteidigung eines sexuellen Normenwächters wendet. Aber solche Verwandlungen des Charakters stehen im Zeichen der Konjunktur und können gewissermaßen zukunftverheißend sein... Ich freilich erkenne auch öffentlich an, was ich mir — allzulang — privatim gefallen ließ: die Fähigkeit, Schüttelreime zu machen. Nur glaube ich, dass auch sie auf die Dauer das Urteil trübt und bedenklichen Schwankungen aussetzt. Denn der Schüttelreim ist bekanntlich der Rüttelschleim des Gehirnes.
Karl Kraus.
Nr. 245, IX. Jahr
28. Februar 1908.