Der Selbandere.*)
Ich kenne einen Reporter, der berühmter Männer Umgang genossen und sogar Ibsen besucht hat, nur leider erst in den Tagen, als der altersschwache Dichter schon nicht mehr im Vollbesitz seiner früheren Grobheit war. Im Grand-Hotel von Christiania, wo Ibsen seine gewohnte Leseecke lange nicht bezogen hatte, betrachtete man den ruhigen Verlauf des Empfangs als einen Beweis der Verschlechterung seines Zustandes. Der Dichter, der in gesunden Jahren kaum zu einem Kopfnicken zu bewegen war, hatte sich von einem Wiener Journalisten interviewen lassen. Das war der Anfang vom Ende, und der Tag ließ nicht lange auf sich warten, da der Publikation authentischer und durch keinen Zwischenfall getrübter Ibsen-Erinnerungen nichts mehr im Wege stand.
Zahlreich sind die Fälle, in denen unser Freund den Zeitpunkt wahrzunehmen verstanden hat, wo der Kräfteverfall einen leidenden Dichter gegen jede Art von Annäherung wehrlos macht. Ein Beispiel aber, dass die ungewohnte Duldung nicht bloß das Symptom eines Schwächezustands, sondern auch eine Vermehrung der Leiden bedeuten kann, bot das Ende Otto Erich Hartlebens. Als dieser sich mit seiner kranken Leber durch die Wälder Karlsbads schleppte und auch nicht mehr wie einst imstande war, einen nüchternen Gesellen zu verscheuchen, da schien unser Freund in der Pflicht treuer Gefolgschaft förmlich aufzugehen. Wer den Ruhm mit der dreimal gespaltenen Zeile mißt, wird sagen, dass keiner von beiden es zu bereuen hatte. Denn Hartleben starb zwar, aber der Begleiter veröffentlichte Erinnerungen an ihn. So oft sich der Todestag Hartlebens jährte, verrichtete er diesen Akt der Pietät. Und auch diesmal ging er hin und legte ihm Stilblüten aufs Grab, als wär's ein Kranz von Immortellen. Er nannte ihn kurz Otto Erich und begann seinen Nachruf mit der Behauptung, sie seien einmal nach einer Probe »selbander hinaus in den schönen Herbsttag an den rebenbewachsenen Saum der Stadt gewandert«. Das ist leider nur zu wahr. Aber wenn auch das Andenken Hartlebens durch solche Enthüllung nicht gerade gefeiert wird, so muß man doch sagen, dass echter Pietät Schmeichelei noch weniger frommt. Wer ihn freilich gekannt hat, weiß, dass er in so einem Fall wenigstens das Wort »selbander« nicht gebraucht hätte. Otto Erich hätte nur zugegeben, dass er die Absicht hatte, an einem schönen Herbsttag an den rebenbewachsenen Saum der Stadt zu wandern, und dass sich ihm einer von jenen angeschlossen hat, die zwölf auf ein Dutzend gehen — wobei man aber immer noch vorsichtshalber nachzählen muß —, einer von jenen, die nicht nur hinter den Kulissen stehen, sondern auch sonst hinter allem, wo den dort nicht Beschäftigten der Eintritt verboten sein sollte; einer von jenen, die ihr Hohlmaß aufstellen, wenn's vom Ruhm eines andern tropft, einer, der kein eigenes Selbst hat, mit einem Wort, ein Selbanderer. Immerhin, der gemeinsame Spaziergang ist nicht in Abrede zu steilen; die Sitte besteht, und alle Dichter, die Wien besuchen, müssen sich ihr fügen. Es ist jenes Spazieren, das für den einen Teil nicht ehrenvoll ist, aber wenigstens dem andern Gewinn bringt. Wenn ein Dichter in Wien ankommt, so ist nicht immer ein Träger auf dem Bahnhof, der ihm sein Gepäck abnimmt, aber immer ein Interviewer, der ihn nach seiner Weltanschauung fragt. Und im Hotel erscheint auf einmaliges Läuten wieder nur ein Interviewer, und auf dreimaliges kein Hausknecht, der Abhilfe schaffen könnte. Man sollte nun glauben, wenn ein Dichter in solcher Lage zum Stock greift, dass dies nicht immer eine Einladung zum Spazierengehen bedeuten müsse. Aber die Dichter haben sich schließlich der weniger sympathischen Auffassung anbequemt und sind auf die Versicherung hin, dass das Leben in Wien trotzalledem gemütlich sei, selbander über die Ringstraße gezogen. Hartleben, so erfahren wir, habe bei solch einer Gelegenheit plötzlich ausgerufen: »Dieses Wien ist doch eine einzige Stadt!«. Der Begleiter meint nun allerdings, Otto Erich habe die Schönheiten Wiens gemeint, aber Otto Erich meinte den Begleiter, dessen Spezies eben dieser Stadt ihre besondere Eigenart gibt. Hier, wo alles auf intime Wirkung berechnet ist, schafft auch noch die äußerste Zurückhaltung Intimität. Jedes Wort, das man spricht, wird aufgehoben, jedes Wort, das man nicht spricht, wird nachgeholt, und es entwickelt sich nach dem Tode des Sprechers eine rege Beziehung, deren Herzlichkeit in der Literaturgeschichte schon deshalb bemerkt werden muß, weil sie mit der Entfernung vom Sterbetage zunimmt. Otto Erich sei in den letzten Jahren wortkarg gewesen, sagen seine Freunde. Aber ein Füllhorn von Vertraulichkeiten, jokosen Bemerkungen und Material für künftige Anekdoten hat er über den Selbandern ausgeschüttet. So verriet er ihm auch, wer das Modell zu seiner »Angèle« war. Ein Mädchen, »das sich nicht des besten Leumunds erfreute«. Otto Erich nahm sie zu sich, wurde auf Veranlassung seines Onkels zur Polizei zitiert und sagte dem Beamten, der ihm seine Lebensweise vorhielt: »Das Mädchen ist meine Braut«. — »Wie heißt Ihre Braut?« fragte der Beamte. Und Otto Erich wußte nur den Vornamen... Aber die Geschichte ist durch einen Druckfehler um ihre Pointe gebracht. Nicht der Beamte hatte jene indiskrete Frage an Otto Erich gestellt, sondern der Begleiter, und zwar war er ihm in dem Moment, als Hartleben Angèle als seine Braut bezeichnete, mit der Frage ins Wort gefallen: »Wie heißt? Ihre Braut? ...« In Karlsbad spielte sich der Verkehr eingestandenermaßen schon in weniger freundlichen Formen ab. Hartleben war krank und brauchte Ruhe. Der Arzt hatte ihm drei Becher verordnet, die man auf den nüchternen Magen immerhin leichter verträgt, als einen einzigen Interviewer. Der aber wich nicht von seiner Seite. Hartleben sollte Bewegung machen, da er aber allein spazieren gehen wollte und nicht selbander, so blieb ihm nichts übrig, als die Absicht aufzugeben oder wenn er doch die Waldluft genießen wollte, einen Wagen zu nehmen. Wer weiß, ob der Zwang zu solcher Kurwidrigkeit nicht den Verfall seiner Kräfte, und anderseits der Drang, Hartleben-Erinnerungen zu schreiben, nicht die Möglichkeit ihres Erscheinens beschleunigt hat. Zwar gelang es Otto Erich nicht immer, gegen das Gebot des Arztes zu handeln und einem Begleiter zu entkommen, der seinen Schritt verfolgen konnte, weil er seinen Tritt nicht fürchten mußte. Wenn der Begleiter nicht nachgab, war die Lebensweise Otto Erichs wieder in kurgemäße Bahnen gelenkt und seine Gesundheit nur mehr durch üble Laune gefährdet. Was jener selbst nicht leugnen kann. Denn er erzählt, Otto Erich »wollte statt des vorgeschriebenen Spazierganges in den Wald fahren, wovon ich ihn zu seinem Ärger abhielt. Bald fand er sich ins Kurleben, und wir pilgerten all morgens hinaus nach dem Kaiserpark«. Nun, ich weiß zufällig, wie dieses Kurleben Otto Erich angeschlagen hat; denn auch ich habe jenen Sommer in Karlsbad verbracht. Der Dichter hat sich oft zu mir und einem seiner näheren Bekannten über die lästigen Begleiterscheinungen der Karlsbader Kur beklagt. Die Waldwege sind dort mit allzu liebevoller Deutlichkeit bezeichnet. Auf Schritt und Tritt weisen dem Spaziergänger gelbe Tafeln die Richtung nach dem Aberg, dem Findlaters-Tempel, nach Ecce homo, Jägerhaus und Kaiserpark, und immer wieder nach denselben Zielen. Und wenn man sich ohnedies schon zurechtfindet, bietet sich sogar immer wieder derselbe Begleiter an, und man verwünscht die gelben Flecke, die einem einen Weg weisen, den man endlich einmal verfehlen möchte. In den Karlsbader Wäldern hatte Hartleben nur den einen Wunsch, einer Tafel zu begegnen, die ihm den Weg ins Labyrinth wiese! Ruhe brauchte er, nichts als Ruhe. Der Biograph gibt es schadenfroh zu: Otto Erich habe sich, um in Karlsbad »unbehelligt leben zu können«, als »Reisender aus Salò« in die Kurliste eingetragen. Daraus habe diese irrtümlicheinen »Geschäftsreisenden« gemacht, dem man auch alsbald eine Kurtaxe vorschrieb, wie sie diesem Beruf angemessen sei. Und der wirkliche Geschäftsreisende, jener, der Hartleben-Erinnerungen an den Mann bringt, blieb von der Kurtaxe befreit, wie es bekanntlich wieder diesem Beruf angemessen ist. Schließlich sei zwar das Mißverständnis aufgeklärt worden; aber Ruhe hatte Otto Erich erst recht nicht. Er trug sich eine zeitlang mit dem Gedanken, seine Erinnerungen an einen Wiener Reporter zu Papier zu bringen. Aber auch dazu sollte er nicht gelangen. Wenn man, wie ich, gesehen hat, wie mißmutig der Dichter bei seinem Frühstück im Kaiserpark saß, so gewinnt die Mitteilung des Biographen, die Blicke der Gäste seien oft auf eine heitere Ecke durch Hartlebens lautes Lachen gelenkt worden, den Anschein starker Übertreibung. Oder es war eben das Lachen der Verzweiflung, das ein Mann lacht, dem nicht mehr viele Sommer blühen und der wieder einen verpfuscht sieht. Wer war ihm über die Leber gekrochen? Der Selbandere macht aus dem Mißbehagen Otto Erichs kein Hehl. Die erste Begegnung in Karlsbad beschreibt er uns mit den Worten: »Dort traf ich ihn eines Morgens unverhofft, wie er sich schüttelte und weit im Bogen ausspie.« »Das ist ein Gesöff! meinte er unwillig«, als er des Wiener Bekannten ansichtig wurde ... Nein, es ist kein Zweifel, die Karlsbader Kur hat Otto Erich Hartleben nicht vertragen.
Seine Tage waren gezählt, und die Stunde nicht mehr fern, da der Stolz, mit einem berühmten Dichter zu verkehren, der Genugtuung weicht, sich an ihn erinnern zu können. Rasch tritt der Reporter den Menschen an. Es ist eine eigentümliche Witterung, die ihn an die Stelle führt, wo einer liegt, bei dem nach Ausspruch der Ärzte der Eintritt der Unsterblichkeit jeden Augenblick erwartet werden kann ... Er aber, der Selbandere, lebt seit Jahrtausenden. Man sagt, er sei Spezialkorrespondent in Golgatha gewesen und habe dort als Vertreter eines einflußreichen Blattes Gelegenheit gehabt, mit einer der beteiligten Personen bis zu dem Moment zu verkehren, da die Worte »Es ist vollbracht« gesprochen wurden.
Karl Kraus.
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*) Aus dem 'Simplizissimus'.
Nr. 246-47, IX. Jahr
12. März 1908.