Girardi


Er will zur deutschen Bühne übergehen und kehrt — abgesehen von einem kurzen Gastspiel, das er nicht rückgängig machen kann — wahrscheinlich nicht mehr nach Wien zurück. Das ist keine Theaternachricht. Aber die Bedeutung der Neuigkeit reicht auch über den Leitartikel hinaus. Denn der Leitartikel dient bloß dazu, uns über die kulturellen Sorgen mit politischem Kinderspiel hinüberzuschwindeln, wie einst das Theater dazu gedient hat, uns über die politischen Sorgen zu beruhigen. Wenn heute in Pilsen um eine Straßentafel gerauft wird, so ist das eine Angelegenheit, die in den Leitartikel gehört. Wenn aber der Wiener Kultur das Herz herausgeschnitten wird, so ist es ein Lokalfall, und einer, über den man schweigt. Gäb's eine Presse, die als Arzt den Puls der kranken Zeit fühlt, anstatt als Spucknapf deren Auswurf zu übernehmen, sie zeigte jetzt ein sorgenvolles Gesicht. In keiner Rubrik dürfte über anderes als über das lokale Symptom einer tödlichen Krankheit gesprochen werden. Wenn sich der öffentliche Schwachsinn wochenlang an die Affäre eines rabiaten Tenoristen klammert, so ist dieses Interesse ein Kulturdokument: hier ist unser Horizont mit der Lampenreihe abgesteckt. Aber ein grelles Blitzlicht erhellt ihn, wenn wir beim Fall Girardi gleichmütig bleiben. Unsere Theatromanie ist eine kulturelle Angelegenheit; aber eine viel wichtigere ist unsere Teilnahmslosigkeit an einem kulturellen Skandal, der nur zufällig in der Theatersphäre spielt. Wenn der Wiener Kultur das Herz herausgeschnitten wurde und sie dennoch weiter leben kann, so muß sie wohl tot sein.

Sollte das Warenhaus Wertheim in Berlin nächstens auf die Idee verfallen — und es bedarf nur dieser Anregung —, uns den Stephansturm abzukaufen, weil es doch unbedingt notwenig ist, dass ein erstklassiger Bazar in der Abteilung für Türme auch das beliebte Wiener Genre auf Lager hält, so würden wir uns geschmeichelt fühlen, wenn wir es nicht für selbstverständlich hielten. Diese Weltausstellungsreife der Wiener Eigenart, das ethnographische Interesse, das man jetzt allerwärts an uns nimmt, diese Zärtlichkeit der Berliner für uns — dies alles ist fast so tragisch wie unsere Unempfindlichkeit gegen solches Schicksal. Wir freuen uns, wie sie Stück für Stück von uns ausprobieren und immer mehr Wohlgefallen an unseren Spezialitäten empfinden und so sehr an allem, was wir haben, teilnehmen, dass sie uns eines Tages ganz haben werden. Sie setzen den Wiener auf ihren Schoß, schaukeln ihn und beruhigen ihn darüber, dass er nicht untergeht. Das macht beiden Teilen Spaß und ist ein Zeitvertreib, der über den langweiligen Ernst eines Fäulnisprozesses hinweghilft. Wir sind auf unsere Tradition stolz gewesen, aber wir waren nicht mehr imstande, die Spesen ihrer Erhaltung aufzubringen. Unsere Gegenwart war tot, unsere Zukunft ungewiß, aber unsere Vergangenheit war uns noch geblieben. Sollten wir auch die verkommen lassen? Da war es doch klüger, sie einem Volk in Kommission zu geben, das keine Vergangenheit hat, aber, eine hinreichend starke Gegenwart, um sich den Luxus einer fremden Vergangenheit leisten zu können. Wir mußten im Luxus darben. Darum war es besser, unsere Tradition in eine G. m. b. H. umwandeln zu lassen. Als Ausstellungsobjekt wird unsere Echtheit erst zur Geltung kommen; es war ein Irrwahn, von ihr leben zu wollen. Bis die Hypertrophie der maschinellen Entwicklung, der die Gehirne nicht gewachsen sind, zum allgemeinen Krach führt, ist es das Schicksal der von Müttern gebornen, rindfleischessenden Völker von den maschinengebornen und maschinell genährten Völkern verschlungen zu werden. In Berlin ißt man, um zu leben, ißt angeblich schlecht und wird tatsächlich fett davon. In Wien lebte man, um zu essen, und verhungerte dabei. Denn da man vom Essen allein nicht leben kann, so ißt man schließlich vom Leben. In Berlin aber lebt man, weil man das Leben nicht der Notdurft, sondern die Notdurft dem Leben unterordnet. Wir haben ein Jahrhundert dem Glauben gelebt, dass es nur in Wien die wahren Kipfel gebe. Aber nun stellt sich heraus, dass man in Berlin seit der Einigung Deutschlands durch Bismarck auch über das richtige Kipfelrezept verfügt. Auch die Echtheit läßt sich als Surrogat herstellen, und die Nerven fahren wohl dabei, wenn man nicht für jede Mehlspeise wie für eine Gottesgabe danken und nicht jede Unart eines Kellners als Ausdruck einer individualistischen Lebensanschauung bewundern muß.

Freilich ist es nicht die echte Echtheit, aber selbst die ist nicht unerschwinglich: sie sitzt den Wienern so lose, dass man sie ihnen einfach abknöpfen kann. Wir haben dem Aufputz des Lebens dieses selbst geopfert, und jene biegen sich das Geschmeide bei, das an unserem Leichnam hängt. Unser ganzer idealer Lebenszweck wandert nun mit Girardi nach Berlin, wo er den Geschmack des Borstenviehs und den am Schweinespeck verbessern wird. Wir sind hinter künstlerischen Fassaden obdachlos geworden, und diese werden nun den Berliner Häusern gute Dienste tun. Auf das »Fahr mer Euer Gnaden?« gibts nur mehr die Antwort: Nach Berlin!, und wenn Alexander Girardi dort seit zwei Monaten an jedem Tag das Fiakerlied singen muß, so klingt es wie eine Friedensbedingung, die die Eroberer einem unterjochten Staat diktiert haben. Preußen führt den Stolz unseres Individualismus als Kriegsgefangenen durch die Siegesallee; denn »so wie die zwa trappen, wern's no net g'segn haben!« Diese Österreicher sind doch dolle Kerls, aber wenn wir ihnen die Fiaker Bratfisch und Mistviecherl nehmen, dann haben wir sie endgiltig um die Großmachtstellung gebracht!

Das mag preußischer Optimismus glauben. Aber die Okkupation Girardis ist wirklich eine vaterländische Schmach. Nicht weil wir einen der begabtesten Menschendarsteller, die je auf einer Wiener Bühne gestanden sind, verlieren werden. Das wäre eine Theatersache. Und eine solche, die etwa schon jene ernsthaften Esel nicht kümmert, die die Bedeutung eines Schauspielers an der Literatur, die er fördert, messen. Girardi wiegt mehr als die Literatur, die er vernachlässigt. Er läßt sich von einem beliebigen Sudler ein notdürftiges Szenarium liefern und in dieses legt er eine Geniefülle, deren Offenbarung erhebender ist als die Bühnenwirkung eines literarischen Kunstwerks, dessen Weihen doch erst der Leser empfangen kann. Es ist gleichgiltig, ob Girardi ein Buch oder eine Buchbinderarbeit für seine künstlerischen Zwecke benützt. Spielt er einmal Literatur, umso besser. Sein Valentin ist gewiß das größte Ereignis des Wienerischen Theaters, und wenn man sich daran erinnert, dass nach diesem Vollmenschen der Siebenmonatsschauspieler Kainz sich an die Rolle gewagt hat, dann möchte man wohl mit den Zähnen knirschen über den verkommenen Geschmack einer Bevölkerung, die nicht einmal der Gedanke an solche Gefahr gemahnt hat, ihr Ureigenstes an künstlerischem Besitz besser zu hüten. An den Schmarren, den Girardi zubereitet, wagt sich kein Stümper, und unsere genießende Erinnerung dieser Gestalten, die eben keines Autors Gestalten sind, bleibt ungetrübt. Girardi ist eine der liebenswertesten und seltensten Persönlichkeiten, die je die dramatische Gelegenheit zu schöpferischer Darstellung benützt haben. Wenn er in einer klebrigen Posse in seiner hinreißenden Betonung etwa den Satz sprach: »Geben Sie jedem Menschen eine Million, lassen Sie ihn in einem Ringstraßenpalais wohnen und die soziale Frage ist gelöste, so war er mir ein weiserer Sozialpolitiker als sämtliche Führer der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie zusammen. Denn der Text war ein seichter Spaß, aber der Akzent war die tiefste Verspottung demagogischer Phrase. Freilich, der Verlust eines Künstlers, der solche Wirkung vermag, wäre an und für sich bloß ein Verlust am künstlerischen Kapital unseres Theaterlebens. Und solche Verluste stehen in den letzten Jahren auf unserem Repertoire. Unser ganzer Theaterhumor ist landflüchtig geworden. Die moderne Wiener Librettoschmierage, die »Lustige Witwe« und der »Mann mit den drei Frauen«, lassen den Individualitäten nicht einmal mehr einen Quadratmeter Raum, um auf der Bühne selbst zu produzieren. Die Impotenz läßt den Unfug schöpferischen Humors nicht aufkommen. Die ausgestattete Humorlosigkeit der neuberlinischen Posse gelangt bei uns zu Ehren und jene noch nestroyfähige Komik, die im Zeitalter der Karczags nur mehr in der Provinz hin und wieder ein Obdach findet, ist vom Theater an der Wien direkt nach Berlin übersiedelt. Der vorzügliche Herr Sachs, dessen Hausknechte in »Jux« und »Früheren Verhältnissen« — durch ihre Ursprünglichkeit und durch ihre Stilechtheit — theaterhistorischen Wert haben, konnte hier keine Beschäftigung finden, und ähnlich wird es Herrn Straßmeyer ergehen, der unser letzter Nestroyspieler ist. Für Wien ist kein Platz mehr in Wien, weil er dem unaufhörlichen Zufluß aus Budapest gehört, und weil wir uns nur mehr an der szenischen Gewandtheit eines Kommishumors ergötzen, den uns der geistesverwandte Feuilletonismus psychologisch verklärt. Für unsere Echtheiten beginnt sich aber die Berliner Warenhauskundschaft zu interessieren. Adele Sandrock ist im Bazar des Herrn Reinhardt ausgestellt. Denn man muß dort neuestens auch Leoparden haben, nachdem so lange nur Konservenbüchsen, orthozentrische Kneifer, Krawatten und Tischlampen verlangt worden sind. Die Berliner sind auf den Geschmack der Persönlichkeiten gekommen, der märkische Sand hat Verständnis für die Schönheit der Berge, und der feuerspeiende Matkowsky, dessen Schlacken wertvoller sind als alle Schätze des naturalistischen Flachlands, fühlt sich nicht mehr vereinsamt. Wenn jetzt auch Girardi hinübergeht, so ist das eine für uns schmerzliche Theatersache, nicht weniger fühlbar im Wiener Kunstleben als der Abgang eines der letzten Burgtheatergroßen.

Nur, dass der Abgang Girardis eben doch mehr als eine Theatersache bedeutet. Denn er bedeutet, dass Wien selbst nach Berlin gegangen ist. Wie groß muß der Überdruß am Österreichischen sein, wenn auch schon Österreich aus Österreich auswandert! Lebt ein Körper noch, der die Umzapfung seines Blutes tonlos erträgt? Ich habe kein Gefühl für den stolzen Besitz der Ringstraße an sich selbst. Aber die Ringstraße müßte dieses Gefühl haben. Dass die Donau jetzt über Passau nach Berlin fließt und in die Nordsee mündet, ist eine Angelegenheit, die der Donau nahegehen müßte. Aber sie denkt sich: Da kann man halt nix machen, und wenn man den Wienern erzählte, Österreich habe sich nach Königgrätz verpflichtet, den Girardi an Preußen auszuliefern, sie glaubten's und wären nur froh, den Karczag behalten zu dürfen. Und schon geht der Besitzer von Kastans Panoptikum mit dem Plan um, die Ambraser Sammlung zu erwerben, und der Gemeindevorstand von Rixdorf hat beschlossen, zur Belebung der Gegend den Wienerwald anzukaufen. Und wenn schließlich alle österreichischen Schätze, Besonderheiten, Vorzüge und Fehler in preußischem Besitz sind, dann erst wird es sich bewahrheiten, dass der Wiener nicht untergeht; er geht nämlich über ... Und während Berlin, das den musikalischen Genuß bisher nur in Form des Grammophons gekannt hat, sich allmählich auch den Luxus der Musik gönnt, geben uns Wienern von dem lieben Menschen Alexander Girardi nur mehr ein paar Grammophonplatten Kunde. Er war Lokalpatriot genug, uns vor seiner Übersiedlung etwas hineinzusingen. Ich lasse mir die alten Lieder manchmal aufspielen, denn, klangen sie stets wie der Abschied versinkender Herrlichkeit, so gibt ihnen jetzt das Geräusch des von der Maschine eingefangenen Lebens einen schaurig ergreifenden Ton. »Doch sagt er, lieber Valentin, mach keine Umständ', geh —« und vor allem: »Ein Aschen! Ein Aschen!«

Karl Kraus.

 

 

Nr. 246-47, IX. Jahr

12. März 1908.


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