Er soll sich aufhängen!


Die vortreffliche Schauspielerin Annie Dirkens, die beim Wiener Publikum durch die temperamentvolle und natürliche Art ihrer Amtsehrenbeleidigungen ungemein beliebt ist und unter deren Leistungen uns vor allem der Hinauswurf eines frechen Exekutionsorgans in dankbarer Erinnerung steht, ist kürzlich zu tausend Kronen verurteilt worden, weil sie einem Finanzwachaufseher eine bessere Beschäftigung gewünscht hatte, als Automobile aufzuhalten, nämlich sich aufzuhängen. Sie hat also für die Armen Wiens gespielt, und das ist immer noch besser, als wenn sie zum Beispiel dem Pensionsfonds der Konkordia den Reinertrag einer Vorstellung hätte abliefern müssen. Immerhin ist es doch auch ein Zwang zur Wohltätigkeit, gegen den man die Künstlerin in Schutz, nehmen muß. Vor allem deshalb, weil die Unbill, die ihr widerfuhr, von einer geistigen Bedenklichkeit ist, die selbst auf dem Niveau der Wiener Bezirksjustiz verblüfft. Dieses auch an und für sich den Dimensionen des Mark Twain-Humors angepaßte Strafausmaß wurde angewendet, wiewohl nur ein Amtseid die inkriminierte Äußerung bestätigte, während der Eid eines Offiziers sie nachdrücklich bestritt. Dass der Richter mit der Absicht der Verurteilung in die Verhandlung eingetreten war, hat ihm der Verteidiger aus dem Konzept einer vollständigen Urteilsbegründung nachgewiesen, das dem Akt schon vor der Verhandlung beilag. Ein so vollgiltiger Beweis richterlicher Unbefangenheit gegenüber dem Beweisverfahren konnte also kein Grund sein, den Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Und der Antrag, der darauf abzielte, war nur geeignet ihn in jener Objektivität zu bestärken, die für einen der plausibelsten Wünsche des Wiener Lebens eine Strafe von 1000 Kronen parat hat.

Wer von uns hat nicht schon im Innersten gewünscht, dass ein Finanzwachaufseher sich aufhänge? Frau Annie Dirkens hatte nur den Mut, diesen Wunsch auszusprechen, aber der Richter strafte sie wegen Aufforderung zum Selbstmord eines Amtsorgans. Wir wünschen täglich, stündlich, dass der oder jener unserer Nebenmenschen, der gerade unser Nervensystem alteriert, dass jeder Büttel, der seinen Machtwahn an uns austobt, jeder Finanzer, der uns mit seinen Verzehrungssteueransprüchen länger molestiert als notwendig, jeder Richter, der uns mehr fragt, als angenehm ist, sich aufhänge. Ein Schuft, wers leugnet. Ich erkläre feierlich, dass ich seit Jahren keinen andern Wunsch mehr habe. Dass er mir so selten in Erfüllung geht, ist kein Grund, ihn immer zu unterdrücken. Natürlich darf man ihn nicht in jeder Situation äußern. Denn sonst kommt uns die Justiz über den Hals und bestraft nicht den, der uns ärgert, sondern uns wegen des Ärgers. Sie glaubt nämlich, dass durch den Ausdruck des Ärgers das Rechtsgut der »Ehre« gefährdet werde. Wenn ich nun sage, dass dieses Rechtsgut mir gestohlen werden kann, so wird sie dies für eine Aufforderung zum Diebstahl halten. Aber das macht nichts; denn vor allem kann mir eine Justiz gestohlen werden, die von der Ansicht ausgeht, dass eine verbale Aufwallung dem, der sie verursacht hat, Nachteil bringe. Wenn einer mir nachruft, ich solle mich aufhängen, so empfinde ich das wahrhaftig als eine viel geringere Störung meines inneren Friedens, als wenn er mich auf einem Gedankengang anhält, um Feuer zu wünschen, nach meinen Sommerplänen zu fragen, oder mir zu versichern, dass er die 'Fackel' immer sogleich nach dem Erscheinen kaufe. Dass die Geistlosigkeit einen attakiert, in ihre Welt zieht und mit Kolbenstößen einem in den Rücken fährt, wenn man die gesell- schaftsfeindliche Absicht hat, nachzudenken, ist eine Sache der Gemütlichkeit, und kein Gesetzgeber wird sich dazu verstehen, einen Kerl für strafbar zu erklären, der mir plötzlich auf der Straßenbahn erzählt, der Mann, der soeben ausgestiegen sei und mit dem er die Ehre hatte zu sprechen, sei der Verwaltungsrat der Kretinose-Aktiengesellschaft oder der Direktor der vereinigten Banalitäts-Werke. Ich aber werde gestraft, wenn ich dem Menschenfreund daraufhin zumute, sich aufzuhängen. Kürzlich hat einer fünf Tage Arrest bekommen, weil er beim Telephon ungeduldig war. Die Äußerung dieser Ungeduld wurde als planvolle Amtsehrenbeleidigung bestraft. Aber man kann sich solches Walten der bezirksgerichtlichen Justiz nur aus einer Auffassung des Gesetzes als eines Erziehungsmittels erklären. Nicht die Ehre des Beleidigten soll geschützt, sondern die Manieren des Beleidigers sollen gebessert werden. Dass diese Auffassung die Justizköpfe beherrscht, geht schon daraus hervor, dass sie bei solchen Gelegenheiten wie fasziniert auf die »Vorbestraftheit« starren. Handelte es sich um den Ehrenschutz, so müßte nach dem Sinne, den ich der Gesetzlichkeit unterschiebe, das Vorbeleidigtsein des Beleidigten und nicht das Vorbestraftsein des Beleidigers »als erschwerend« bei der Strafbemessung berücksichtigt werden. Ist eine Telephonistin schon einmal gekränkt worden, so hat sie Anspruch auf intensiveren Schutz, der auch nur jenem Amtsdiener gebührt, der nachweisen kann, dass er schon einmal hinausgeworfen wurde. Und ein Beamter, der zum Beleidigtwerden neigt, müßte irgendwie besonders kenntlich gemacht sein, damit die schwerere Strafe nicht den treffe, der ihn seinerseits zum erstenmal beleidigt hat. Aber die Gesetzgebung, die das Volk aus der Volksschulweisheit bedient, behandelt die Staatsbürger nicht anders, als die Schule die Buben: Wer's zum zweitenmal tut, muß nachsitzen. Diese Straferschwerungen des Lebens sind von der ausgemachtesten Torheit diktiert. Anstatt als mildernden Umstand die vielen Beleidigungen, die einer nicht begeht, ihm anzurechnen, wird er vom Staat ausgeplündert, wenn er in einem an Ärgernissen und Quälereien reichen Leben fünfmal gewünscht hat, dass ein Steuerexekutor sich aufhänge. Du lieber Himmel! Habt ihr eine Ahnung, welchen unverbrauchten Schatz an Amtsehrenbeleidigungen ich in meinem Herzen trage!

Frau Baronin Dirkens-Hammerstein, vorbestraft, ist zu 1000 Kronen verurteilt worden, weil sie mit demselben Temperament, mit dem sie auf der Bühne die liebenswürdigsten Gestalten ausstattet, einen Finanzwachaufseher bedient hatte. Das ist eine Leistung für einen Staat, in dem sich sonst schlechtere Schauspielerinnen mehr erlauben dürfen. Aber diese österreichischen Anläufe zur Rücksichtslosigkeit, diese gelegentliche Bereitwilligkeit, ohne Ansehen der Person eine Dummheit zu begehen, sind immerhin eine angenehme Abwechslung in dieser Monotonie einer Schlamperei, die auf alle Ermahnungen zu einem beschleunigten Tempo des Staatslebens immer nur die gekränkte Frage bereit hat: Schiab i denn nöt eh an? Der Anblick eines Regiments, in dem die einen Brust heraus und die anderen Kniee heraus schreiten, hat etwas von Falstaffs Truppe. Nur dass Falstaff die Ehre eindeutiger definiert. Der hügelige Charakter des Wiener Terrains prägt sich vor allem in der Verschiedenartigkeit der Strafen aus, die die Wiener Bezirksgerichte wegen Ehrenbeleidigung verhängen. In Simmering bekommt eine Schauspielerin tausend Kronen, in der Leopoldstadt hätte sie wegen derselben Äußerung zwanzig bekommen, denn dort bekommt ein Theaterdirektor zehn, der eine Schauspielerin mit dem Fuß hinausgestoßen hat. Der Appellsenat setzt den Hobel an und hobelt alle gleich. Aber es ist eben Tischlerarbeit. Und die Lebensfremdheit ohne Schliff und Politur, die allen gemeinsam ist, bleibt bestehen. Der Richter, der den Rat, einer solle sich aufhängen, für eine Aufforderung zum Tode durch den Strang ansah, führte unter den Gründen des Schuldspruchs die Unglaubwürdigkeit der angeklagten Schauspielerin an. Unglaubwürdig erschien sie ihm deshalb, weil aus den Akten hervorgehe, dass sie älter sei, als sie angegeben habe. Einer solchen Frau ist auch eine Amtsehrenbeleidigung zuzutrauen. Wenn man dazu noch bedenkt, dass sie sich auf der Bühne schminkt und zum Beispiel in der Operette »Die Fledermaus« sich für etwas ausgibt, was sie gar nicht ist, so mag sie froh sein, dass sie so glimpflich davongekommen ist. Denn nicht jedes Gefängnis ist ein fideles Gefängnis und für die Launen einer muntern Adele hat nur die Psychologie des Gerichtsdieners Frosch einiges Verständnis.

Karl Kraus.

 

 

Nr. 248, IX. Jahr

24. März 1908.


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