Theateraffären
Die Wiener Theaterredakteure haben die Gewohnheit, sich über den Schauspielerkultus, den sie täglich zweimal bedienen, hinterdrein lustig zu machen. Sie sind Pfaffen, die dem Volke seine Frömmigkeit vorwerfen. Ein Tenorist hat seinen Direktor geprügelt. Dass darüber spaltenlange Berichte erscheinen, ist bei weitem nicht so schlimm wie die nachträgliche spaltenlange Entrüstung über das Interesse, das die Bevölkerung an solchen Affären nimmt. Eine Opernsängerin soll entlassen werden. Das bloße Gerücht, dass sie die Tochter eines Rabbiners sei, hat genügt, die liberale Presse zum Kampf gegen den neuen Direktor aufzuwiegeln, und sie nahm sich nicht einmal die Mühe, das Gerücht auf seine Stichhaltigkeit zu prüfen. Hätte man uns nicht für die Stadien der Affäre Bland interessiert, unsere Diskussion stände noch heute im Zeichen des Falles Meister. Aber auch jetzt werden wir wieder mit der kalten Ironie derselben Theaterpresse übergossen, die uns eben noch so schön eingeheizt hat. Die Wiener Öffentlichkeit weiß wirklich nicht mehr, wofür sie sich eigentlich erwärmen soll. Wie ein Tenorist seinen Direktor geprügelt hat, wird uns zwei Wochen lang in zwei Rubriken beschrieben. Wie eine Sängerin von ihrem Direktor gezwungen wurde, ihre Demission zu geben, wird uns mit Gebärden vorgetragen, die einen Musikreporter als Geschäftsträger einer aus wärtigen Macht und einen Reklameadvokaten als Ankläger beim jüngsten Gericht beglaubigen könnten. Und kaum haben wir daran geglaubt, kommen die Ironiker über uns und lachen unserer Einfalt. Sie haben unsern Horizont mit Brettern vernagelt, und sagen, er sei eng. Das moderne Wien, höhnen sie, erleide »Rückfälle in den beschränktesten Vormärz«. Das ist nur zu wahr. Aber während damals bloß der Bäuerle den Ton angab, kommandiert jetzt der Bauer, und während damals bloß im kleinen Kaffeehaus der Theatertratsch serviert wurde, züchtet ihn jetzt die große Presse. Im Vormärz war der Theatertratsch eine Ableitung verbotener Interessen und ein erfreulicher Auswuchs der vom politischen Druck aufgetriebenen Kunstliebe. In den Zeiten des allgemeinen Wahlrechts ist er der kümmerliche Bodensatz der von der politischen Freiheit ausgelaugten Kultur. Als noch die Öllämpchen brannten, wars keine Schande, sich für die Affären einer Diva zu interessieren. Aber im Angesicht der Elektrizität ist die Erörterung des Falles Meister ein Denkmal unserer geistigen Entwicklung, und in den Tagen, da uns die Rotationsmaschinen über die Gehirne fahren, wird sie zum Maßstab dessen, was uns noch übrig geblieben ist. Dass einer Tagespresse, die uns der Rückständigkeit anklagt, die Legitimation fehlt, ist so schlimm nicht, wie die Ungerechtigkeit der Anklage, die sich als eine Verleumdung der Rückständigkeit qualifiziert. Unser Geistesleben mit dem des Vormärz zu vergleichen, ist eine so beispiellose Gemeinheit gegen den Vormärz, dass nur die ethische Verwahrlosung, die vierhundert Vorstellungen der »Lustigen Witwe« bewirkt haben, solchen Anwurf entschuldigen kann. Den modernen Kulissenaffären gegenüber glaube man sich, wagt einer jener Ironiker zu versichern, »in die Zeiten des Café Stierböck versetzt, wo Nestroy und seine Komiker, die lange Pfeife schmauchend, die größte Sensation machten, wenn sie direkt aus dem Carltheater mit der noch warmen Kunde vom neuesten Zerwürfnis der Demoiselle X. mit ihrem bisherigen Verehrer aufwarteten«. Ja, schämen wir uns! In den Zeiten, da uns ein Buchbinder die Vorstadtpossen schreibt, benehmen wir uns noch so, wie anno Nestroy! Ich weiß zwar nicht, ob dieser geistvollste Schriftsteller, den Deutschland im neunzehnten Jahrhundert gehabt hat, ob der Mann, dem Ludwig Speidel Swift'schen Humor nachsagt und den Theodor Meynert einen »Fetzen von Shakespeare« nennt, nicht auch an den Gesprächen über die Angelegenheiten der Demoiselle X. jenen Anteil genommen hat, der ihn eher in die Reihe unserer Ironiker des Theaterlebens als in die unserer Geschichtenträger stellt. Aber ich weiß, dass unser Fortschritt sich nicht besser empfehlen kann, als dadurch, dass er uns vor einem Rückfall in die Lebensanschauung eines Nestroy warnt. Und ich weiß, dass die Hausknechte seines Zeitalters mehr Kultur hatten als heute die Hofräte, und mehr Weisheit als heute die Philosophen. Unser Horizont hat sich wirklich nicht erweitert, unser Echaufferment in Theateraffären ist das gleiche geblieben. Höchstens, dass dazumal ein Tenorist, der sich pöbelhaft benahm, ausgepfiffen wurde, und dass er heute um desselben Verdienstes willen bejubelt wird. Wien bleibt eine Theaterstadt.
Karl Kraus.
Nr. 245, IX. Jahr
28. Februar 1908.