Das Wesen der Musik


Der Trieb der Verständigung, der aus allen Elementen der Sinnlichkeit eine Sprache bilden will, bemächtigt sich auch der in die Wahrnehmungen gelegten Affekte und macht sie konventionell und trügerisch. Jede Art von Sprache ist auf ihrer ersten Stufe Gefühlsvortäuschung, etwas der Schauspielerei sehr nahe Verwandtes. Mit der mehr und mehr vervollkommneten und verkürzten Mitteilungstechnik werden aber die sinnlichen Substrate immer knapper und flüchtiger. Die Raschheit der Verständigung fordert den geringsten physischen Kraftaufwand: die ausdrucksvolle, ausgreifende Bewegung sänftigt sich zur kurzen Gebärde, der Schrei dämpft sich zum Laut, das Bild verblaßt und schrumpft zum Schriftzeichen ein, der Affekt wird durch die Bedeutung ersetzt, die Phantasie durch den Verstand. Und es würde allmählich eine totale Intellektualisierung aller Gefühlswerte platzgreifen, wenn der Strom der Entwicklung, dem Theoretiker zuliebe, in einem einzigen Bette glatt und hemmungslos dahinflösse. Dieser Strom aber teilt sich in unzählige Arme, bildet Inseln und Sandbänke. Und Schnellen und Katarakte komplizieren seinen Lauf mit Wogen, Stürzen und glitzerndem Gischt ... Wenn einer der Entwicklungsströme allzujäh den Tiefen der Erkenntnis zustürzt, dann wird sein Wasser von den granitenen Gründen zurückgeschleudert, — und ein Teil zerstäubt zu leuchtenden Tröpfchen und schwebt eine Weile als anmutige Wolke über dem Brausen des Kessels. Diese Wolke ist die Kunst. In der kalten und schaurigungewohnten Region des Geistes fror es den Menschen und er sehnte sich zurück nach der wärmeren Heimat der bedenkenlosen Affekte, und wenn Geberde, Wort und Zeichen seinen Intellekt müde gemacht haben, möchte er sich an dem Gefühlswert erholen, den diese Träger des Gedankens noch aus der Zeit in sich schließen, da sie erst Bewegung, Schrei und Bild waren. Und weil Geberde, Wort und Zeichen als solche durch Zweck und Konvention der Mitteilung verflacht, oberflächlich gemacht wurden und an unmittelbarer gefühlsweckender Wirkung sehr verarmt sind, müssen sie auf künstliche Weise wieder möglichst verstärkt und ausdrucksvoll gemacht werden. Mittel hiezu sind: Verstärkung der physischen Sinnlichkeit, beim Worte z. B. Macht, Umfang, Schmelz der Stimme (Rhetorik), der Gleichklang (Poetik) und Begleitung durch künstlichen Schall (Instrumentalistik), beim optischen Zeichen räumliche Ausdehnung (Monumentalistik) und Begleitwirkung der Farbe (Koloristik), bei der Geberde die Nachahmung der bei extremen Affekten beobachteten extremsten Bewegungen (Naturalistik) und Begleitwirkung durch Maskierung (Mimik mit Einschluß des Kostüms); dann die besondere Anordnung der Sinneseindrücke, die Rhythmisierung, u.zw. der Bewegung (Gestik, Tanz), des Schalles (Rhythmik, Melodik), der Form (Symmetrik, Architektonik), des Klanges und der Farbe (Harmonik); schließlich die Kumulierung der Eindrücke, die Kombination der der Künste (Szenik, Gesamtkunstwerk). Es ist klar, dass solche Künste, insbesondere die kombinierten, nur vermöge eines außerordentlich festen Systems von Konventionen sich entwickeln können.*) Jede Geste, jede Stimmnuance, jede rhythmische und melodische Folge, jeder Klang, jede Farbe hat in den Anfängen der Kunstentwicklung eine feststehende, unantastbare Bedeutung. Und jede Neuerung wird hier als schlimmste Ketzerei betrachtet. Wieviel Willkür aber fordert die Konvention! Wieviel Verlegungen, Vertauschungen, Umkehrungen des ursprünglichen Sinnes, welche babylonische Verwirrung für den, der außerhalb der Konvention steht! Man denke sich einen aus dem Grabe erstandenen alten Römer in einer lateinisch gesungenen großen Oper italienischen Stils, man spiele einem hochkultivierten Chinesen eine Beethovensche Symphonie vor, man stelle einen vornehmen Perser vor ein Bild des Murillo ...

In den Künsten wird der sinnliche Eindruck alsbald zum Symbol, zum Träger einer Gefühlsbedeutung. Und wie weit diese Gefühlssymbolik — die künstlerische Wieder-Vergefühlung der durch ihre Vergeistigung zum größten Teil entfühlten Akustik und Optik durch Umsymbolisierung des Verstandesmäßigen ins Gefühlsmäßige — wie weit solche Symbolik der Symbole von sinnlicher Wahrnehmung der Realität entfernt ist, möge man daraus ermessen, wieviel Konvention und Symbolik bereits in der scheinbar so objektiven Anschauung und Empfindung des nackten menschlichen Körpers enthalten ist, wie verschieden derselbe weibliche Körper auf einen Norweger und Japaner wirkt. Von allen Kunstkonventionen aber entsteht die musikalische als letzte und komplizierteste. Sie hat die Konventionen der Bewegung und des Wortes zur direkten Voraussetzung. Denn der Gesang, ohne den die Entstehung einer absoluten Musik fast undenkbar wäre, besteht aus Rhetorik und Rhythmik. Das Lied war ursprünglich nichts anderes als skandierter Vortrag und die ursprüngliche Melodik war eine mehr als bescheidene. Dass der »Geiste der Musik ein entlehnter ist, nämlich der Geist des Wortes, wurde ja in neueren Epochen von ihr zu leugnen versucht, dass ihr elementar Körperliches nichts anderes ist als rhythmisierte Bewegung, konnte sie ohne Selbstverleugnung schlechterdings nicht wegdisputieren. Der innige Zusammenhang von Musik und Bewegung liegt ja auch heute noch ganz offen zutage. Blutumlauf, Gang, Marsch, Lauf und Tanz lieferten der Musik die typischen Rhythmen und man könnte im Groben und Großen die Musik als einen in erstaunlich vollkommenem Maße geglückten Versuch erklären, Bewegung in besonderer, lustvoller Weise hörbar und ohne Anstrengung mit Genuß fühlbar zu machen.

 

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Während die Melodik und Harmonik sich auf der Grundlage des Gesanges ausbildeten, nimmt die Instrumentalistik zunächst von der reinen Bewegung ihren Ausgangspunkt. Wenn Arbeiter einen Pfahl in den Boden treiben und gemeinsam im selben Tempo das Seil des Fallgewichtes heben und loslassen sollen, so schreien sie im Rhythmus »hoch-rück« oder es übernimmt einer — der Aufseher — die Angabe des Taktes und ersetzt den ermüdenden Schrei durch Händeklatschen oder Stampfen: dies ist dann die primitivste Instrumental-Musik. Und wenn er — zur Schonung der Hände oder Füße — zwei Hölzer aneinanderschlägt, ist dies das primitivste Instrument. Das erste aller Instrumente ist das unstimmbare und im wörtlichsten Sinne monotone Schlagwerk: die Trommel. Die Urform der Trommel mögen etwa zwei Hölzer oder auch zwei Schwerter oder Speere zum Aneinanderschlagen gewesen sein. Später erst dürfte der Gong erfunden worden sein und aus verschieden gestimmten und stimmbaren Trommeln entstanden eine ganze Reihe von Musikinstrumenten. (Die Geschichte der Musik-Instrumente, soweit sie bis ins Prähistorische verfolgbar ist, und die Vergleichung der Musikinstrumente bei wilden Völkern müßte dem Psychologen die dankenswertesten Aufklärungen — nicht nur musiktheoretischer Natur — geben!)

Der elementare und technische Körper der Musik bildete sich mit dem geschärften Sinn für Bewegung und Rhythmik und mit der wachsenden Geschicklichkeit der Bewegung und ihrer künstlichen Mechanisierung aus. Als ursprünglichste Musik darf wohl das Singen oder Trommeln zu gleichmäßiger Muskelarbeit, zu rituellen oder kriegerischen Märschen (die feierliche Prozession, der Kriegszug) und zum festlichen und sinnlichen Tanze angesehen werden. Dieser Hauptarm der Musik, der seine eigentliche Wirkung aus der Rhythmik ableitet, trifft in erster Linie das Nervensystem. Diese Musik wirkt tonisch. Sie soll die Müdigkeit des Arbeiters durch den Reiz auf das motorische Nervensystem überwinden; sie soll die Länge der Arbeitszeit durch die rhythmische Interpunktierung kürzen; sie soll den Gang des Priesters regelmäßig, ungewöhnlich, eindrucksvoll, den Gang des Kriegers elastisch, rasch, entschlossen machen; sie soll die Menge festlich, das Heer kriegerisch stimmen. Sie soll endlich auch ein Ventil für gehemmte Bewegungslust sein: man tanzte zum erstenmal da, wo man lieber über ein Feld gelaufen wäre, ein Weib umarmt, einen Feind bekämpft, ein Tier gejagt, ein Pferd geritten hätte, man tanzte, weil kein Feld zum Durchlaufen, kein Weib, kein Feind, kein Beutetier, kein Pferd da war und man sich nicht anders zu helfen wußte. Und wo man nicht einmal tanzen kann, wirkt auch das bloße Hören von Tanzrhythmen als Erlösung.

Der andere Hauptarm der Musik nimmt seinen Ausgangspunkt von der im Worte eingeschlossenen Gefühlssymbolik, von der Rhetorik, vom gesanglichen Vortrag. Diese Musik wirkt hauptsächlich auf die Phantasie und erleichtert die Gefühlsimagination. Sie belebt das Wort durch eine ebenso falsche als brutale gefühlsmäßige Interpretation, sie macht das eindeutige, knappe Wort (den Text einer Erzählung oder eines Gebetes) vieldeutig und dadurch vielbedeutend. Sie ersetzt den abstrakten Realismus des Wortes durch den Konkretismus imaginärer Gefühle, sie »erhebt«, indem sie die Phantasie beweglich macht und mit ihrer sinnlichen Brutalität die Schranken der Logik und Wirklichkeit wegtaucht. Diese Musik erlaubt es dem Durchschnittsmenschen, sich für kurze Zeit an Hochgefühlen zu berauschen, sich bedeutsam und erhaben zu fühlen, das Bewußtsein der Macht und Freiheit auszukosten, sich zum schaffenden Phantasten, zum Künstler, emporzuschrauben. Diese Musik ist ein Narkotikum. Dass sie der Anregung und Stutze des Wortes auch dort, wo sie scheinbar absolut — für sich — auftritt, nicht entbehren kann, ersieht man daraus, dass sie eigentlich erst in Verbindung mit dem Schauspiel, zuerst als Chor-, dann als Sologesang (Oper), erstarkte und so weit sich vervollkommnete, dass sie es endlich wagen durfte, ohne das unmittelbar begleitende Wort verstanden werden zu wollen. Dies wäre jedoch ohne vorherige lange und innige Verbindung mit dem Worte niemals möglich geworden. Erst wenn die Konvention des Wortes durch lange Übung und vielfach modifiziert in die Konvention der Tongeberde übergegangen ist, erst wenn die Musik das Wort verdaut, einverleibt nat, ist sie imstande, auf fremden Füßen wie auf eigenen zu stehen, »absolut« zu sein.

 

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Wenn man bedenkt, welch langer und mühevoller Übung es bedurfte, für den Klang jedes einzelnen Instrumentes eine akustische Konvention zu finden und diese Konvention wieder mit der Konvention und Symbolik des Wortes übereinzustimmen, die Instrumente untereinander in Einklang zu bringen und überdies noch eine Konvention für den ganzen technischen Körper — das Orchester — zu erreichen, dann ist es begreiflich, dass man das Resultat solch ungeheurer, vieltausendjähriger Arbeit, die neuere Musik — indem man alle ihre Vorbedingungen und Vorstufen vergißt — für ein unbegreifliches Wunder, für einen Ausfluß der Gottheit oder des Weltenwillens hält. Welche Kunst gebietet aber auch über eine Resonanz von so zwingender sinnlicher Wirkung, wie es der moderne Instrumentalkörper ist!

Die Instrumente dienten zuerst nur zur Regulierung, zur Führung der Gesangsstimmen, aber allmählich und schrittweise erfolgte das Überwuchern der fast unbegrenzte Möglichkeiten in sich bergenden instrumentalen Akustik über die der Menschenstimme und das völlige Übertragen der Gesangssymbolik auf die Instrumente. Diese absolut gewordene Musik ist am weitesten von ihrem Ausgangspunkte, von der Natur, vom »Wesen« der Dinge entfernt; sie ist die äußerste Verflüchtigung der realen Affekte, sie ist das Produkt vielfacher, ununterbrochener Umdeutung von Zeichen für Affekte, sie ist die konventionellste Symbolik, die überhaupt möglich ist. Sie ist vom logischen Gedanken, vom realen Gefühl und vom klar vorgestellten Bilde gleich weit entfernt, sie ist irrealer als diese Kategorien und daher zugleich allgemeiner und leichter deutbar. Sie ist etwas extrem Subjektives und daher in ihrer Objektivation unverständlich und unendlich vieldeutig. Sie kann nicht verstanden, aber leicht und vielfach gefühlsmäßig gedeutet werden. Und gerade seiner Vieldeutigkeit halber wird das Substrat solcher Mitteilung immer wieder für ein reales Objekt genommen, dem die empfundenen Affekte als Eigenschaften anhaften. Die Musik symbolisiert Gefühle, das sinnliche Substrat der Musik löst sie im Hörer subjektiv aus und der Hörer empfindet sie als objektiv real. Und dies gelingt umso leichter, als eine Kritik des Empfindens unmöglich ist. Wo es kein Verstehen gibt, glaubt jeder richtig zu verstehen, weil er sich mühelos in das umfängliehe Schema einstellen kann. Die Musik vermittelt die leichteste Möglichkeit der Gefühlsschwelgerei ohne intellektuelle und moralische Zensur. In ihr vermag alle Gefühlssehnsucht sich schrankenlos, ohne logische Bedenken, ohne Scham und andere ethische oder soziale Hemmungen auszutoben. Dies ist das eigentliche Geheimnis der Musikwirkung. Musik ist ein Ventil für alle Gefühle, die sonst unerlaubt sind, die in Form von Gedanken, spontanen Affekten oder deutlichen Phantasien sündhaft oder böse wären. In Form von Musikmachen oder -hören darf die prüdeste Jungfrau alle Zügel schießen lassen, so ungestüm sexuell wie ein brünstiger Faun oder so raffiniert erotisch sein wie ein überwitzter Wüstling. In Form von musikalischer Erregung darf der korrekteste Staatsbürger so wild, zerstörungslustig und revolutionär sein wie der wütigste Anarchist. Das eine ist keine Sünde, das andere kein Verbrechen, das Gefühl ist so täuschend verwandelt, dass niemand — auch der Fühlende nicht — es weiß; das eine heißt etwa »Tristan« oder »Salome«, das andere heißt vielleicht »Neunte« oder »Siegfried« und bedeutet (nach der maßgebenden Auffassung der Musikgelehrten) natürlich ganz andere — entgegengesetzte! — Dinge. Während aber die Musik für verpönte Gefühle ein Ventil ist, ist sie für den geplagten Intellekt ein Asyl. In der Musik ruht der Geist aus. Und dies ist der Sinn und die große Rechtfertigung nicht nur der Musik, sondern der Kunst überhaupt, dass sie dem Geiste Erholungspunkte bietet, dass sie zu jenen Pausen einladet, in denen der Geist nicht nur ruht, in denen er auch wächst und für seine schwierigsten Aufgaben Kräfte sammelt. Die Kunst teilt diese hohe Bestimmung mit dem Weibe. Aber wie die Geschlechtslust, so kann auch der Kunstgenuß zur Leidenschaft entarten und Leid statt Lust, Schwäche statt Kraft bringen. Einen, der in geschlechtlicher Leidenschaft die Zügel über sich selbst verliert und zum Hörigen seiner Passion wird, nennt man mit Recht einen Weibsknecht. Ich nenne daher die, denen die Kunst zum unentbehrlichen Narkotikum geworden ist, Kunstknechte. Und solche haben so wenig Anrecht auf den Titel vollwertiger Kulturmenschen wie Weibsknechte. Mir ist sogar der Lüstling noch lieber als der Künstling. (Man darf auch den Hersteller einzelner Kunstwerke, den Kunstwerker, nicht mit dem Künstler verwechseln, der ein Initiator und selbstherrlicher Gewaltmensch ist.) Und gerade die Musik fordert zahllose Opfer, weit mehr als der Alkohol. In der Musik ruht der Geist sehr häufig so gründlich aus, dass die unter dem Namen Musikerkretinismus wohlbekannten Verblödungserscheinungen gezeitigt werden. Die Musik gestattet die zeitweilige Rückkehr des Intellekts auf eine Vorstufe seiner Entwicklung, in der an Stelle der scharfen Unterscheidung der verschiedenen Kategorien der Realität ein gewisser Dämmerzustand herrscht, in welchem Denken, Vorstellen und Fühlen noch wenig differenziert sind. »Musik bespült die Gedankenküste. Nur wer kein Festland bewohnt, wohnt in der Musik.« (Karl Kraus.) Es gibt aber nur sehr wenige, die Festland bewohnen und es ist leichter, angenehmer, romantischer und sogar künstlerischer, sich von den Wellen der Gefühlskonvention tragen zu lassen, als auf den Beinen eigenen Denkens zu wandern.

Karl Hauer

 

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*) Vergleiche hiezu meinen Artikel »Die Voraussetzungen des Theaters«, 'Fackel' Nr. 219—220.


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