§2. Die natürliche Lebendigkeit als schöne

 

c) Zunächst aber gibt der Ausdruck der seelenhaften Empfindung weder den Anblick einer notwendigen Zusammengehörigkeit der besonderen Glieder untereinander noch die Anschauung der notwendigen Identität der realen Gliederung und der subjektiven Einheit der Empfindung als solcher.

α) Soll die Gestalt nun dennoch als Gestalt diese innere Übereinstimmung und deren Notwendigkeit erscheinen lassen, so kann der Zusammenhang für uns als die Gewohnheit des Nebeneinanderstehens solcher Glieder sein, welches einen gewissen Typus und die wiederholten Bilder dieses Typus hervorbringt. Die Gewohnheit jedoch ist selbst nur wieder eine bloß subjektive Notwendigkeit. Nach diesem Maßstab können wir z. B. Tiere häßlich finden, weil sie einen Organismus zeigen, der von unseren gewohnten Anschauungen abweicht oder ihnen widerspricht. Wir nennen deshalb Tierorganismen bizarr, insofern die Weise der Zusammenstellung ihrer Organe außerhalb der sonst schon häufig gesehenen und uns deshalb geläufigen fällt: Fische z. B., deren unverhältnismäßig großer Leib in einen kurzen Schwanz endet und deren Augen auf einer Seite nebeneinanderstehen. Bei Pflanzen sind wir mannigfachere Abweichungen schon eher gewohnt, obschon uns der Kaktus z. B. mit seinen Stacheln und der mehr geradlinigen Bildung seiner eckigen Stangen verwundersam erscheinen können. Wer in der Naturgeschichte vielseitige Bildung und Kenntnis hat, wird in dieser Beziehung sowohl die einzelnen Teile am genauesten kennen, als auch die größte Menge von Typen ihrer Zusammengehörigkeit nach im Gedächtnis tragen, so daß ihm wenig Ungewohntes vor die Augen kommt.

β) Ein tieferes Eindringen in diese Zusammenstimmung kann sodann zweitens zu der Einsicht und Geschicklichkeit befähigen, aus einem vereinzelten Gliede sogleich die ganze Gestalt, welcher dasselbe angehören müsse, anzugeben. Wie Cuvier15) z. B. in dieser Rücksicht berühmt war, indem er durch die Anschauung eines einzelnen Knochens - sei er fossil oder nicht - festzustellen wußte, welchem Tiergeschlechte das Individuum zuzuteilen sei, dem er zu eigen war. Das ex ungue leonem gilt hier im eigentlichen Sinne des Wortes; aus den Klauen, dem Schenkelbein wird die Beschaffenheit der Zähne, aus diesen umgekehrt die Gestalt des Hüftknochens, die Form des Rückenwirbels entnommen. Bei solcher Betrachtung jedoch bleibt das Erkennen des Typus keine bloße Gewohnheitssache, sondern es treten schon Reflexionen und einzelne Gedankenbestimmungen als das Leitende ein. Cuvier z.B. hat bei seinen Feststellungen eine inhaltsvolle Bestimmtheit und durchgreifende Eigenschaft vor sich, welche als die Einheit in allen besonderen, voneinander verschiedenen Teilen sich geltend machen und deshalb darin wiederzuerkennen sein soll. Solche Bestimmtheit etwa ist die Qualität des Fleischfressens, welche dann das Gesetz für die Organisation aller Teile ausmacht. Ein fleischfressendes Tier z. B. bedarf anderer Zähne, Backenknochen usf.; es kann sich, wenn es auf Raub ausgehen, den Raub packen muß, nicht mit Hufen begnügen, sondern hat Klauen nötig. Hier also ist Bestimmtheit das Leitende für die notwendige Gestalt und Zusammengehörigkeit aller Glieder. Zu dergleichen allgemeinen Bestimmtheiten geht auch wohl die gewöhnliche Vorstellung fort, wie bei der Stärke des Löwen, des Adlers usf. Solche Betrachtungsweise nun werden wir als Betrachtung allerdings schön und geistreich nennen können, indem sie uns eine Einheit der Gestaltung und ihrer Formen kennen lehrt, ohne daß diese Einheit einförmig sich wiederholt, sondern den Gliedern zugleich ihre volle Unterschiedenheit läßt. Jedoch ist in dieser Betrachtung die Anschauung nicht das Überwiegende, sondern ein allgemeiner leitender Gedanke. Nach dieser Seite werden wir deshalb nicht sagen, daß wir uns zu dem Gegenstande als schönem verhalten, sondern wir werden die Betrachtung, als subjektive, schön nennen. Und näher angesehen, gehen diese Reflexionen von einer einzelnen beschränkten Seite als leitendem Prinzipe aus, von der Art nämlich der tierischen Ernährung, von der Bestimmung z. B. des Fleischfressens, Pflanzenfressens usf. Durch solche Bestimmtheit aber ist es nicht jener Zusammenhang des Ganzen, des Begriffs, der Seele selbst, der zur Anschauung kommt.

γ) Wenn wir daher in dieser Sphäre die innere totale Einheit des Lebens zum Bewußtsein bringen sollten, so könnte es nur durch das Denken und Begreifen geschehen; denn im Natürlichen kann sich die Seele als solche noch nicht erkennbar machen, weil die subjektive Einheit in ihrer Idealität noch nicht für sich selbst geworden ist. Erfassen wir nun aber die Seele durch das Denken ihrem Begriff nach, so haben wir zweierlei: die Anschauung der Gestalt und den gedachten Begriff der Seele als Seele. Dies soll nun aber in der Anschauung des Schönen nicht der Fall sein; der Gegenstand darf uns weder als Gedanke vorschweben, noch als Interesse des Denkens einen Unterschied und Gegensatz gegen die Anschauung bilden. Es bleibt deshalb nichts übrig, als daß der Gegenstand für den Sinn überhaupt vorhanden sei, und als die echte Betrachtungsweise des Schönen in der Natur erhalten wir dadurch eine sinnvolle Anschauung der Naturgebilde. »Sinn« nämlich ist dies wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal aber heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Und so bezieht sich der Sinn einerseits auf das unmittelbar Äußerliche der Existenz, andererseits auf das innere Wesen derselben. Eine sinnvolle Betrachtung nun scheidet die beiden Seiten nicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriff auf. Da sie aber eben diese Bestimmungen in noch ungetrennter Einheit in sich trägt, so bringt sie den Begriff nicht als solchen ins Bewußtsein, sondern bleibt bei der Ahnung desselben stehen. Werden z. B. drei Naturreiche festgestellt, das Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, so ahnen wir in dieser Stufenfolge eine innere Notwendigkeit begriffsgemäßer Gliederung, ohne bei der bloßen Vorstellung einer äußerlichen Zweckmäßigkeit stehenzubleiben. Auch bei der Mannigfaltigkeit der Gebilde innerhalb dieser Reiche ahnt die sinnige Beschauung einen vernunftgemäßen Fortschritt in den verschiedenen Gebirgsformationen wie in den Reihen der Pflanzen- und Tiergeschlechter. Ähnlich wird auch der einzelne tierische Organismus, dies Insekt mit seiner Einteilung in Kopf, Brust, Unterleib und Extremitäten, als eine in sich vernünftige Gliederung angeschaut und in den fünf Sinnen, obschon sie anfangs wohl als eine zufällige Vielheit erscheinen können, dennoch gleichfalls eine Angemessenheit zum Begriffe gefunden werden. Von solcher Art ist die Goethesche Beschauung und Darlegung der inneren Vernünftigkeit der Natur und ihrer Erscheinungen. Mit großem Sinne trat er naiverweise mit sinnlicher Betrachtung an die Gegenstände heran und hatte zugleich die volle Ahnung ihres begriffsgemäßen Zusammenhangs. Auch die Geschichte kann so erfaßt und erzählt werden, daß durch die einzelnen Begebenheiten und Individuen ihre wesentliche Bedeutung und ihr notwendiger Zusammenhang heimlich hindurchleuchtet.

 


 © textlog.de 2004 • 22.11.2024 13:22:01 •
Seite zuletzt aktualisiert: 20.06.2005 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright