2. Die Abhängigkeit des unmittelbaren einzelnen Daseins
Der nächste wichtige Punkt, der sich hieraus ergibt, ist folgender. Mit der Unmittelbarkeit des Einzelnen tritt die Idee in das wirkliche Dasein ein. Durch dieselbe Unmittelbarkeit nun aber wird sie zugleich in die Verwicklung mit der Außenwelt verflochten, in die Bedingtheit äußerer Umstände wie in die Relativität von Zwecken und Mitteln, überhaupt in die ganze Endlichkeit der Erscheinung hineingerissen. Denn die unmittelbare Einzelheit ist zunächst ein in sich abgerundetes Eins, sodann aber schließt es sich aus dem gleichen Grunde negativ gegen Anderes ab und wird seiner unmittelbaren Vereinzelung wegen, in welcher es nur eine bedingte Existenz hat, von der Macht der nicht in ihm selber wirklichen Totalität zum Bezug auf anderes und zur mannigfaltigsten Abhängigkeit von Anderem gezwungen. Die Idee hat in dieser Unmittelbarkeit alle ihre Seiten vereinzelt realisiert und bleibt deshalb nur die innere Macht, welche die einzelnen Existenzen, natürliche wie geistige, aufeinander bezieht. Dieser Bezug ist ihnen selbst ein äußerlicher und erscheint auch an ihnen als eine äußerliche Notwendigkeit der vielfachsten wechselseitigen Abhängigkeiten und des Bestimmtseins durch Anderes. Die Unmittelbarkeit des Daseins ist von dieser Seite her ein System notwendiger Verhältnisse zwischen scheinbar selbständigen Individuen und Mächten, in welchem jedes Einzelne in dem Dienste ihm fremder Zwecke als Mittel gebraucht wird oder des ihm Äußerlichen selbst als Mittels bedarf. Und da sich hier die Idee überhaupt nur auf dem Boden des Äußerlichen realisiert, so erscheint zu gleicher Zeit auch das ausgelassene Spiel der Willkür und des Zufalls sowie die ganze Not der Bedürftigkeit losgebunden. Es ist das Bereich der Unfreiheit, in welcher das unmittelbar Einzelne lebt.
a) Das einzelne Tier z. B. ist sogleich an ein bestimmtes Naturele- ment, Luft, Wasser oder Land, gefesselt, wodurch seine ganze Lebens- weise, die Art der Ernährung und damit der ganze Habitus bestimmt ist. Dies gibt die großen Unterschiede des Tierlebens. Es treten dann wohl noch andere Mittelgeschlechter auf, Schwimmvögel und Säugetiere, welche im Wasser leben, Amphibien und Übergangsstufen; dies sind aber nur Vermischungen und keine höheren, umfassenden Vermitt- lungen. Außerdem bleibt das Tier in seiner Selbsterhaltung in steter Unterwürfigkeit in betreff auf die äußere Natur, Kälte, Dürre, Mangel an Nahrung, und kann in dieser Botmäßigkeit durch die Kargheit seiner Umgebung die Fülle seiner Gestalt, die Blüte seiner Schönheit verlieren, abmagern und nur den Anblick dieser allseitigen Dürftigkeit geben. Ob es, was ihm an Schönheit zugeteilt ist, bewahrt oder einbüßt, ist äußerli- chen Bedingungen unterworfen.
b) Der menschliche Organismus in seinem leiblichen Dasein fällt, wenn auch nicht in demselben Maße, dennoch einer ähnlichen Abhän- gigkeit von den äußeren Naturmächten anheim und ist der gleichen Zufälligkeit, unbefriedigten Naturbedürfnissen, zerstörenden Krankheiten wie jeder Art des Mangels und Elendes bloßgestellt.
c) Weiter hinauf in der unmittelbaren Wirklichkeit der geistigen Interessen erscheint die Abhängigkeit erst recht in der vollständigsten Relativität. Hier tut sich die ganze Breite der Prosa im menschlichen Dasein auf. Schon der Kontrast der bloß physischen Lebenszwecke gegen die höheren des Geistes, indem sie sich wechselseitig hemmen, stören und auslöschen können, ist dieser Art. Sodann muß der einzelne Mensch, um sich in seiner Einzelheit zu erhalten, sich vielfach zum Mittel für andere machen, ihren beschränkten Zwecken dienen, und setzt die anderen, um seine eigenen engen Interessen zu befriedigen, ebenfalls zu bloßen Mitteln herab. Das Individuum, wie es in dieser Welt des Alltäglichen und der Prosa erscheint, ist deshalb nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderem verständlich. Denn der einzelne Mensch steht in der Abhängigkeit von äußeren Einwirkungen, Gesetzen, Staatseinrichtungen, bürgerlichen Verhältnissen, welche er vorfindet und sich ihnen, mag er sie als sein eigenes Inneres haben oder nicht, beugen muß. Mehr noch ist das einzelne Subjekt für andere nicht als solche Totalität in sich, sondern tritt für sie nur nach dem nächsten vereinzelten Interesse hervor, das sie an seinen Handlungen, Wünschen und Meinungen haben. Was die Menschen zunächst interessiert, ist nur die Relation zu ihren eigenen Absichten und Zwecken. - Selbst die großen Handlungen und Begebenheiten, zu welchen eine Gesamtheit sich zusammentut, geben sich in diesem Felde relativer Erscheinungen nur als Mannigfaltigkeit einzelner Bestrebungen. Dieser oder jener bringt das Seinige hinzu, aus diesem oder jenem Zweck, der ihm mißlingt oder den er durchsetzt, und im glücklichen Fall [ist] am Ende etwas erreicht, das gegen das Ganze gehalten sehr untergeordneter Art ist. Was die meisten Individuen vollführen, ist in dieser Beziehung im Vergleich mit der Größe der ganzen Begebenheit und des totalen Zwecks, für den sie ihren Beitrag liefern, nur ein Stückwerk; ja diejenigen selbst, welche an der Spitze stehen und das Ganze der Sache als das Ihrige fühlen und sich zum Bewußtsein bringen, erscheinen als in vielseitige besondere Umstände, Bedingungen, Hemmnisse und relative Verhältnisse verschlungen. Nach allen diesen Rücksichten hin gewährt das Individuum in dieser Sphäre nicht den Anblick der selbständigen und totalen Lebendigkeit und Freiheit, welche beim Begriffe der Schönheit zugrunde liegt. Zwar fehlt es auch der unmittelbaren menschlichen Wirklichkeit und deren Begebnissen und Organisationen nicht an einem System und einer Totalität der Tätigkeiten; aber das Ganze erscheint nur als eine Menge von Einzelheiten; die Beschäftigungen und Tätigkeiten werden in unendlich viele Teile gesondert und zersplittert, so daß auf die Einzelnen nur ein Partikelchen des Ganzen kommen kann; und wie sehr die Individuen nun auch mit ihren eigenen Zwecken dabeisein mögen und das zutage fördern, was durch ihr einzelnes Interesse vermittelt ist, so bleibt die Selbständigkeit und Freiheit ihres Willens dennoch mehr oder weniger formell, durch äußere Umstände und Zufälle bestimmt und durch die Hemmungen der Natürlichkeit gehindert.
Dies ist die Prosa der Welt, wie dieselbe sowohl dem eigenen als auch dem Bewußtsein der anderen erscheint, eine Welt der Endlichkeit und Veränderlichkeit, der Verflechtung in Relatives und des Drucks der Notwendigkeit, dem sich der Einzelne nicht zu entziehen imstande ist. Denn jedes vereinzelte Lebendige bleibt in dem Widerspruche stehen, sich für sich selbst als dieses abgeschlossene Eins zu sein, doch ebensosehr von anderem abzuhängen, und der Kampf um die Lösung des Widerspruchs kommt nicht über den Versuch und die Fortdauer des steten Krieges hinaus.