1. Die schöne Individualität
Das Allgemeinste, was sich unserer bisherigen Betrachtung nach vom Ideal der Kunst in ganz formeller Weise aussagen läßt, geht darauf hinaus, daß einerseits zwar das Wahre nur in seiner Entfaltung zur äußeren Realität Dasein und Wahrheit hat, andererseits aber das Außereinander desselben so sehr in Eins zusammenzufassen und zu halten vermag, daß nun jeder Teil der Entfaltung diese Seele, das Ganze an ihm erscheinen macht. Nehmen wir zur nächsten Erläuterung die menschliche Gestalt, so ist sie, wie wir schon früher sahen, eine Totalität von Organen, in welche der Begriff auseinandergegangen ist und in jedem Gliede nur irgendeine besondere Tätigkeit und partielle Regung kundgibt. Fragen wir aber, in welchem besonderen Organe die ganze Seele als Seele erscheint, so werden wir sogleich das Auge angeben; denn in dem Auge konzentriert sich die Seele und sieht nicht nur durch dasselbe, sondern wird auch darin gesehen. Wie sich nun an der Oberfläche des menschlichen Körpers im Gegensatze des tierischen überall das pulsierende Herz zeigt, in demselben Sinne ist von der Kunst zu behaupten, daß sie jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle, welches der Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt. - Oder wie Platon in jenem bekannten Distichon an den Aster ausruft:
Wenn zu den Sternen du blickst, mein Stern, o wär ich der Himmel, Tausendäugig sodann auf dich herniederzuschaun!,
so umgekehrt macht die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausend- äugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde. Und nicht nur die leibliche Gestalt, die Miene des Gesichts, die Gebärde und Stellung, sondern ebenso auch die Handlungen und Begebnisse, Reden und Töne und die Reihe ihres Verlaufs durch alle Bedingungen des Erscheinens hindurch hat sie allenthalben zum Auge werden zu lassen, in welchem sich die freie Seele in ihrer inneren Unendlichkeit zu erkennen gibt.
a) Bei dieser Forderung durchgängiger Beseelung entsteht sogleich die nähere Frage, welches die Seele sei, zu deren Augen alle Punkte der Erscheinung werden sollen, und bestimmter noch fragt es sich, welcher Art die Seele sei, die ihrer Natur nach sich befähigt zeige, durch die Kunst zu ihrer echten Manifestation zu kommen. Denn in gewöhnlichem Sinne spricht man auch von einer spezifischen Seele der Metalle, des Gesteins, der Gestirne, Tiere, der vielfach partikularisierten menschlichen Charaktere und ihrer Äußerungen. Für die natürlichen Dinge aber, wie Steine, Pflanzen usf., kann der Ausdruck Seele in der obigen Bedeutung nur uneigentlich gebraucht werden. Die Seele der bloß natürlichen Dinge ist für sich selbst endlich, vorübergehend und mehr eine spezifizierte Natur als eine Seele zu nennen. Die bestimmte Individualität solcher Existenzen tritt deshalb schon in ihrem endlichen Dasein vollständig hervor. Sie kann nur irgendeine Beschränktheit darstellen, und die Erhebung in die unendliche Selbständigkeit und Freiheit wird nichts als ein Schein, welcher auch dieser Sphäre wohl zu leihen ist, doch, wenn es wirklich geschieht, nur immer von außen her durch die Kunst herangebracht wird, ohne daß diese Unendlichkeit in den Dingen selber begründet ist. In gleicher Weise ist auch die empfindende Seele als natürliche Lebendigkeit wohl eine subjektive, jedoch nur innerliche Individualität, welche nur an sich in der Realität vorhanden ist, ohne als Rückkehr zu sich sich selber zu wissen und dadurch in sich unendlich zu sein. Ihr Inhalt bleibt daher selbst beschränkt, und ihre Manifestation bringt es teils nur zu einer formellen Lebendigkeit, Unruhe, Beweglichkeit, Begierlichkeit und Angst und Furcht dieses abhängigen Lebens, teils nur zu der Äußerung einer in sich selber endlichen Innerlichkeit. Die Beseelung und das Leben des Geistes allein ist die freie Unendlichkeit, die in dem realen Dasein für sich selbst als Inneres ist, weil sie in ihrer Äußerung zu sich selber zurückkehrt und bei sich bleibt. Dem Geiste allein ist es deshalb gegeben, seiner Äußerlichkeit, wenn er durch dieselbe auch in die Beschränktheit eintritt, dennoch zugleich den Stempel seiner eigenen Unendlichkeit und freien Rückkehr zu sich aufzudrücken. Nun ist aber auch der Geist, indem er nur erst dadurch frei und unendlich ist, daß er seine Allgemeinheit wirklich faßt und die Zwecke, die er in sich setzt, zu ihr erhebt, seinem eigenen Begriff nach fähig, wenn er diese Freiheit nicht ergriffen hat, als beschränkter Inhalt, verkümmerter Charakter, verkrüppeltes und flaches Gemüt zu existieren. Mit solchem in sich nichtigen Gehalt bleibt die unendliche Manifestation des Geistes wieder nur formell, da wir dann nichts als die abstrakte Form selbstbewußter Geistigkeit erhalten, deren Inhalt der Unendlichkeit des freien Geistes widerspricht. Es ist nur durch einen echten und in sich substantiellen Inhalt, durch welchen das beschränkte veränderliche Dasein Selbständigkeit und Substantialität hat, so daß dann Bestimmtheit und Gediegenheit in sich, beschränkt abgeschlossener und substantieller Gehalt in ein und demselbigen wirklich sind und das Dasein hierdurch die Möglichkeit erlangt, an der Beschränktheit seines eigenen Inhalts zugleich als Allgemeinheit und als bei sich seiende Seele manifestiert zu sein. - Mit einem Worte, die Kunst hat die Bestimmung, das Dasein in seiner Erscheinung als wahr aufzufassen und darzustellen, d. i. in seiner Angemessenheit zu dem sich selbst gemäßen, dem an und für sich seienden Inhalt. Die Wahrheit der Kunst darf also keine bloße Richtigkeit sein, worauf sich die sogenannte Nachahmung der Natur beschränkt, sondern das Äußere muß mit einem Inneren zusammenstimmen, das in sich selbst zusammenstimmt und eben dadurch sich als sich selbst im Äußeren offenbaren kann.
b) Indem die Kunst nun das in dem sonstigen Dasein von der Zufälligkeit und Äußerlichkeit Befleckte zu dieser Harmonie mit seinem wahren Begriffe zurückführt, wirft sie alles, was in der Erscheinung demselben nicht entspricht, beiseite und bringt erst durch diese Reinigung das Ideal hervor. Man kann dies für eine Schmeichelei der Kunst ausgeben, wie man z. B. Porträtmalern nachsagt, daß sie schmeicheln. Aber selbst der Porträtmaler, der es noch am wenigsten mit dem Ideal der Kunst zu tun hat, muß in diesem Sinne schmeicheln, d. h. alle die Äußerlichkeiten in Gestalt und Ausdruck, in Form, Farbe und Zügen, das nur Natürliche des bedürftigen Daseins, die Härchen, Poren, Närbchen, Flecke der Haut muß er fortlassen und das Subjekt in seinem allgemeinen Charakter und seiner bleibenden Eigentümlichkeit auffassen und wiedergeben. Es ist etwas durchaus anderes, ob er die Physiognomie nur überhaupt ganz so nachahmt, wie sie ruhig in ihrer Oberfläche und Außengestalt vor ihm dasitzt, oder ob er die wahren Züge, welche der Ausdruck der eigensten Seele des Subjekts sind, darzustellen versteht. Denn zum Ideale gehört durchweg, daß die äußere Form für sich der Seele entspreche. So ahmen z. B. die in neuester Zeit Mode gewordenen sogenannten lebenden Bilder zweckmäßig und erfreulich berühmte Meisterwerke nach, und das Beiwesen, Drapierung usf. bilden sie richtig ab; aber für den geistigen Ausdruck der Gestalten sieht man häufig genug Alltagsgesichter verwenden, und dies wirkt zweckwidrig. Raffaelische Madonnen dagegen zeigen uns Formen des Gesichts, der Wangen, der Augen, der Nase, des Mundes, welche als Formen überhaupt schon der seligen, freudigen, frommen zugleich und demütigen Mutterliebe gemäß sind. Man könnte allerdings behaupten wollen, alle Frauen seien dieser Empfindung fähig, aber nicht jede Form der Physiognomie genügt dem vollen Ausdruck solcher Seelentiefe.