c. Der Charakter

 

Wir gingen aus von den allgemeinen, substantiellen Mächten des Handelns. Sie bedürfen zu ihrer Betätigung und Verwirklichung der menschlichen Individualität, in welcher sie als bewegendes Pathos erscheinen. Das Allgemeine nun aber jener Mächte muß sich in den besonderen Individuen zur Totalität und Einzelheit in sich zusammenschließen. Diese Totalität ist der Mensch in seiner konkreten Geistigkeit und deren Subjektivität, die menschliche totale Individualität als Charakter. Die Götter werden zum menschlichen Pathos, und das Pathos in konkreter Tätigkeit ist der menschliche Charakter.

Dadurch macht der Charakter den eigentlichen Mittelpunkt der idealen Kunstdarstellung aus, insofern er die bisher betrachteten Seiten als Momente seiner eigenen Totalität in sich vereinigt. Denn die Idee als Ideal, d. i. für die sinnliche Vorstellung und Anschauung gestaltet und in ihrer Betätigung handelnd und sich vollbringend, ist in ihrer Bestimmtheit sich auf sich beziehende subjektive Einzelheit. Die wahrhaft freie Einzelheit aber, wie das Ideal dieselbe erheischt, hat sich nicht nur als Allgemeinheit, sondern ebensosehr als konkrete Besonderheit und als die einheitsvolle Vermittlung und Durchdringung dieser Seiten zu erweisen, welche für sich selbst als Einheit sind. Dies macht die Totalität des Charakters aus, dessen Ideal in der reichen Kräftigkeit der sich in sich zusammenfassenden Subjektivität besteht.

Wir haben in dieser Beziehung den Charakter nach drei Seiten hin zu betrachten:

Erstens als totale Individualität, als Reichtum des Charakters in sich. Zweitens muß diese Totalität sogleich als Besonderheit und der Charakter deshalb als bestimmter erscheinen. Drittens schließt sich der Charakter, als in sich einer, mit dieser Bestimmtheit, als mit sich selbst, in seinem subjektiven Fürsichsein zusammen und hat sich dadurch als in sich fester Charakter durchzuführen.

Diese abstrakten Gedankenbestimmungen wollen wir jetzt erläutern und der Vorstellung näherbringen.

α) Das Pathos, indem es sich innerhalb einer vollen Individualität entfaltet, erscheint dadurch in seiner Bestimmtheit nicht mehr als das ganze und alleinige Interesse der Darstellung, sondern wird selbst nur eine, wenn auch eine Hauptseite des handelnden Charakters. Denn der Mensch trägt nicht etwa nur einen Gott als sein Pathos in sich, sondern das Gemüt des Menschen ist groß und weit. Zu einem wahrhaften Menschen gehören viele Götter, und er verschließt in seinem Herzen alle die Mächte, welche in dem Kreis der Götter auseinandergeworfen sind; der ganze Olymp ist versammelt in seiner Brust. In diesem Sinne sagte ein Alter: »Aus deinen Leidenschaften hast du dir die Götter gemacht, o Mensch!« Und in der Tat, je gebildeter die Griechen wurden, desto mehr Götter hatten sie, und ihre früheren Götter waren stumpfere, nicht zur Individualität und Bestimmtheit herausgestaltete Götter.

In diesem Reichtum muß sich deshalb der Charakter auch zeigen. Das gerade macht das Interesse aus, welches wir an einem Charakter nehmen, daß eine solche Totalität sich an ihm hervortut und er in dieser Fülle dennoch er selbst, ein in sich abgeschlossenes Subjekt bleibt. Ist der Charakter nicht in dieser Abrundung und Subjektivität geschildert und abstrakt nur einer Leidenschaft preisgegeben, so erscheint er außer sich oder verrückt, schwach und kraftlos. Denn die Schwäche und Machtlosigkeit der Individuen besteht eben darin, daß der Gehalt jener ewigen Mächte an ihnen nicht als ihr eigenstes Selbst, als Prädikate, welche ihnen als dem Subjekt der Prädikate inhärieren, zur Erscheinung kommen. Im Homer z. B. ist jeder Held ein ganzer lebendigvoller Umfang von Eigenschaften und Charakterzügen. Achill ist der jugendlichste Held, aber seiner jugendlichen Kraft fehlen die übrigen echt menschlichen Qualitäten nicht, und Homer enthüllt uns diese Mannigfaltigkeit in den verschiedensten Situationen. Achill liebt seine Mutter, die Thetis, er weint um die Briseîs, da sie ihm entrissen ist, und seine gekränkte Ehre treibt ihn zu dem Streite mit Agamemnon, der den Ausgangspunkt aller ferneren Begebenheiten in der Ilias ausmacht. Dabei ist er der treuste Freund des Patroklos und Antilochos, zugleich der blühendste, feurigste Jüngling, schnellfüßig, tapfer, aber voll Ehrfurcht vor dem Alter; der treue Phönix, der vertraute Diener, liegt zu seinen Füßen, und bei der Leichenfeier des Patroklos erweist er dem greisen Nestor die höchste Achtung und Ehre. Ebenso zeigt sich aber Achill auch als reizbar, aufbrausend, rachsüchtig und voll härtester Grausamkeit gegen den Feind, als er den erschlagenen Hektor an seinen Wagen bindet und so den Leichnam, dreimal um Trojas Mauern jagend, nachschleppt; und dennoch erweicht er sich, als der alte Priamos zu ihm ins Zelt kommt; er gedenkt daheim des eigenen alten Vaters und reicht dem weinenden König die Hand, welche den Sohn ihm getötet hat. Bei Achill kann man sagen: Das ist ein Mensch! - Die Vielseitigkeit der edlen menschlichen Natur entwickelt ihren ganzen Reichtum an diesem einen Individuum. Und so ist es auch mit den übrigen Homerischen Charakteren: Odysseus, Diomedes, Ajax, Agamemnon, Hektor, Andromache; jeder ist ein Ganzes, eine Welt für sich, jeder ein voller, lebendiger Mensch und nicht etwa nur die allegorische Abstraktion irgendeines vereinzelten Charakterzuges. Welch kahle, fahle, wenn auch kräftige Individualitäten sind dagegen der hörnene Siegfried, der Hagen von Tronje und selbst Volker, der Spielmann.

Eine solche Vielseitigkeit allein gibt dem Charakter das lebendige Interesse. Zugleich muß diese Fülle als zu einem Subjekt zusammengeschlossen erscheinen und nicht als Zerstreuung, Faselei und bloße mannigfaltige Erregbarkeit - wie die Kinder z. B. alles in die Hand nehmen und sich ein augenblickliches Tun damit machen, aber charakterlos sind -; der Charakter im Gegenteil muß in das Verschiedenste des menschlichen Gemüts eingehen, darin sein, sein Selbst davon ausfüllen lassen und doch zugleich darin nicht steckenbleiben, vielmehr in dieser Totalität der Interessen, Zwecke, Eigenschaften, Charakterzüge die in sich zusammengenommene und gehaltene Subjektivität bewahren.

Für die Darstellung solcher totalen Charaktere eignet sich vor allem die epische Poesie, weniger die dramatische und lyrische.

 


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