a. Die individuelle Selbständigkeit: Heroenzeit
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γγ) Hierin läßt sich nun sogleich ein Grund dafür finden, daß die idealen Kunstgestalten in mythische Zeitalter, überhaupt aber in die älteren Tage der Vergangenheit als besten Boden ihrer Wirklichkeit hineinversetzt werden. Sind die Stoffe nämlich aus der Gegenwart genommen, deren eigentümliche Form, wie sie wirklich vorliegt, in der Vorstellung allen ihren Seiten nach festgeworden ist, so erhalten die Veränderungen, deren sich der Dichter nicht entschlagen kann, leicht den Anschein des bloß Gemachten und Absichtlichen. Die Vergangenheit dagegen gehört nur der Erinnerung an, und die Erinnerung vollbringt von selber schon das Einhüllen der Charaktere, Begebenheiten und Handlungen in das Gewand der Allgemeinheit, durch welches die besonderen äußerlichen und zufälligen Partikularitäten nicht hindurchscheinen. Zur wirklichen Existenz einer Handlung oder eines Charakters gehören viele geringfügige vermittelnde Umstände und Bedingungen, mannigfach einzelnes Geschehen und Tun, während in dem Bilde der Erinnerung alle diese Zufälligkeiten verlöscht sind. In dieser Befreiung von der Zufälligkeit des Äußeren erhält der Künstler, wenn die Taten, Geschichten, Charaktere alten Zeiten angehören, in betreff auf das Partikuläre und Individuelle freiere Hand für seine künstlerische Gestaltungsweise. Er hat zwar auch wohl historische Erinnerungen, aus denen er den Inhalt in die Gestalt des Allgemeinen herausarbeiten muß; aber das Bild der Vergangenheit hat schon, wie gesagt, als Bild den Vorteil der größeren Allgemeinheit, während die vielfachen Fäden der Vermittlung von Bedingungen und Verhältnissen mit ihrer ganzen Umgebung von Endlichkeit zugleich die Mittel und Haltepunkte an die Hand geben, um die Individualität, deren das Kunstwerk bedarf, nicht zu verwischen. Näher gewährt dann ein heroisches Zeitalter den Vorteil vor einem späteren, ausgebildeteren Zustande, daß der einzelne Charakter und das Individuum überhaupt in solchen Tagen das Substantielle, Sittliche, Rechtliche noch nicht als gesetzliche Notwendigkeit sich gegenüber findet und dem Dichter insofern das unmittelbar vorliegt, was das Ideal fordert.
Shakespeare z. B. hat viele Stoffe für seine Tragödien aus Chroniken oder alten Novellen geschöpft, welche von einem Zustande erzählen, der sich zu einer vollständig festgestellten Ordnung noch nicht auseinandergelegt hat, sondern in welchem die Lebendigkeit des Individuums in seinem Beschließen und Ausführen noch das Vorherrschende ist und das Bestimmende bleibt. Seine eigentlich historischen Dramen dagegen haben ein Hauptingrediens von bloß äußerlich Historischem in sich und liegen deshalb von der idealen Darstellungsweise weiter ab, obschon auch hier die Zustände und Handlungen durch die harte Selbständigkeit und Eigenwilligkeit der Charaktere getragen und gehoben werden. Freilich bleiben diese in ihrer Selbständigkeit mehr nur wieder ein meist formelles Beruhen auf sich, während bei der Selbständigkeit der heroischen Charaktere wesentlich auch der Inhalt anzuschlagen ist, dessen Verwirklichung sie sich zum Zwecke gemacht haben.
Durch diesen letzten Punkt widerlegt sich denn auch in betreff auf den allgemeinen Boden des Ideals die Vorstellung, als sei dafür das Idyllische vornehmlich geeignet, indem in diesem Zustande ja die Entzweiung des für sich Gesetzlichen und Notwendigen und der lebendigen Individualität in keiner Weise vorhanden sei. Wie einfach und ursprünglich nun aber auch die idyllischen Situationen sein mögen und wie weit sie absichtlich von der ausgebildeten Prosa des geistigen Daseins entfernt gehalten werden, so hat doch eben diese Einfachheit nach der anderen Seite hin dem eigentlichen Gehalt nach zu wenig Interesse, um als der eigentlichste Grund und Boden des Ideals gelten zu können. Denn die wichtigsten Motive des heroischen Charakters, Vaterland, Sittlichkeit, Familie usf., und deren Entwicklung trägt dieser Boden nicht in sich, wogegen sich etwa der ganze Kern des Inhalts darauf beschränkt, daß ein Schaf sich verloren oder ein Mädchen sich verliebt hat. So gilt das Idyllische auch häufig nur als eine Zuflucht und Erheiterung des Gemüts, wozu sich denn wie bei Geßner17) z. B. oft noch eine Süßlichkeit und weichliche Schlaffheit gesellt. Die idyllischen Zustände unserer heutigen Gegenwart haben wieder das Mangelhafte, daß diese Einfachheit, das Häusliche und Ländliche in Empfindung der Liebe oder der Wohlbehägigkeit eines guten Kaffees im Freien usf., gleichfalls von geringfügigem Interesse sind, indem von allem weiteren Zusammenhange mit tieferen Verflechtungen in gehaltreichere Zwecke und Verhältnisse bei diesem Landpfarrerleben usf. nur abstrahiert wird. Daher ist auch in dieser Beziehung Goethes Genius zu bewundern, daß er sich in Hermann und Dorothea zwar auf ein ähnliches Gebiet konzentriert, indem er aus dem Leben der Gegenwart eine engbegrenzte Besonderheit herausgreift, zugleich aber als Hintergrund und als Atmosphäre, in welcher sich dieser Kreis bewegt, die großen Interessen der Revolution und des eigenen Vaterlandes eröffnet und den für sich beschränkten Stoff mit den weitesten, mächtigsten Weltbegebenheiten in Beziehung bringt.
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