c. Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten
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Formeller schon ist eine zweite Hauptkollision, welche die griechischen Tragiker besonders in dem Schicksal des Ödipus darzustellen liebten, wovon uns Sophokles das vollendetste Beispiel in seinem Oedipus rex und Ödipus auf Kolonos zurückgelassen hat. Hier handelt es sich um das Recht des wachen Bewußtseins, um die Berechtigung dessen, was der Mensch mit selbstbewußtem Wollen vollbringt, dem gegenüber, was er unbewußt und willenlos nach der Bestimmung der Götter wirklich getan hat. Ödipus hat den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet, in blutschänderischem Ehebette Kinder gezeugt, und dennoch ist er, ohne es zu wissen und zu wollen, in diese ärgsten Frevel verwickelt worden. Das Recht unseres heutigen, tieferen Bewußtseins würde darin bestehen, diese Verbrechen, da sie weder im eigenen Wissen noch im eigenen Wollen gelegen haben, auch nicht als die Taten des eigenen Selbst anzuerkennen; der plastische Grieche aber steht ein für das, was er als Individuum vollbracht hat, und zerscheidet sich nicht in die formelle Subjektivität des Selbstbewußtseins und in das, was die objektive Sache ist.
Für uns von untergeordneterer Art endlich sind andere Kollisionen, welche teils auf die allgemeine Stellung des individuellen Handelns überhaupt zum griechischen Fatum, teils auf speziellere Verhältnisse Bezug haben.
Bei allen diesen tragischen Konflikten nun aber müssen wir vornehmlich die falsche Vorstellung von Schuld oder Unschuld beiseite lassen. Die tragischen Heroen sind ebenso schuldig als unschuldig. Gilt die Vorstellung, der Mensch sei schuldig nur in dem Falle, daß ihm eine Wahl offenstand und er sich mit Willkür zu dem entschloß, was er ausführt, so sind die alten plastischen Figuren unschuldig; sie handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, dieses Pathos sind; da ist keine Unentschlossenheit und keine Wahl. Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen. Sie sind das, was sie sind, und ewig dies, und das ist ihre Größe. Denn die Schwäche im Handeln besteht nur in der Trennung des Subjekts als solchen und seines Inhalts, so daß Charakter, Willen und Zweck nicht absolut in eins gewachsen erscheinen und das Individuum sich, indem ihm kein fester Zweck als Substanz seiner eigenen Individualität, als Pathos und Macht seines ganzen Wollens in der Seele lebt, unentschlossen noch von diesem zu jenem wenden und sich nach Willkür entscheiden kann. Dies Herüber und Hinüber ist aus den plastischen Gestalten entfernt; das Band zwischen Subjektivität und Inhalt des Wollens bleibt für sie unauflöslich. Was sie zu ihrer Tat treibt, ist eben das sittlich berechtigte Pathos, welches sie nun auch in pathetischer Beredsamkeit gegeneinander nicht in der subjektiven Rhetorik des Herzens und Sophistik der Leidenschaft geltend machen, sondern in jener ebenso gediegenen als gebildeten Objektivität, in deren Tiefe, Maß und plastisch lebendiger Schönheit vor allem Sophokles Meister war. Zugleich aber führt ihr kollisionsvolles Pathos sie zu verletzenden, schuldvollen Taten. An diesen nun wollen sie nicht etwa unschuldig sein. Im Gegenteil: was sie getan, wirklich getan zu haben, ist ihr Ruhm. Solch einem Heros könnte man nichts Schlimmeres nachsagen, als daß er unschuldig gehandelt habe. Es ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu sein. Sie wollen nicht zum Mitleiden, zur Rührung bewegen. Denn nicht das Substantielle, sondern die subjektive Vertiefung der Persönlichkeit, das subjektive Leiden rührt. Ihr fester, starker Charakter aber ist eins mit seinem wesentlichen Pathos, und dieser unscheidbare Einklang flößt Bewunderung ein, nicht Rührung, zu der auch Euripides erst übergegangen ist.
Das Resultat endlich der tragischen Verwicklung leitet nun keinem anderen Ausgange zu, als daß sich die beiderseitige Berechtigung der gegeneinander kämpfenden Seiten zwar bewährt, die Einseitigkeit ihrer Behauptung aber abgestreift wird und die ungestörte innere Harmonie, jener Zustand des Chors zurückkehrt, welcher allen Göttern ungetrübt die gleiche Ehre gibt. Die wahre Entwicklung besteht nur in dem Aufheben der Gegensätze als Gegensätze, in der Versöhnung der Mächte des Handelns, die sich in ihrem Konflikte wechselweise zu negieren streben. Nur dann ist nicht das Unglück und Leiden, sondern die Befriedigung des Geistes das letzte, insofern erst bei solchem Ende die Notwendigkeit dessen, was den Individuen geschieht, als absolute Vernünftigkeit erscheinen kann und das Gemüt wahrhaft sittlich beruhigt ist; erschüttert durch das Los der Helden, versöhnt in der Sache. Nur wenn man diese Einsicht festhält, läßt sich die alte Tragödie begreifen. Wir dürfen deshalb solch eine Art des Abschlusses auch nicht als einen bloß moralischen Ausgang auffassen, demgemäß das Böse bestraft und die Tugend belohnt ist, d. h. »wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch«. Auf diese subjektive Seite der in sich reflektierten Persönlichkeit und deren Gut und Böse kommt es hier gar nicht an, sondern, wenn die Kollision vollständig war, auf die Anschauung der affirmativen Versöhnung und das gleiche Gelten beider Mächte, die sich bekämpften. Ebensowenig ist die Notwendigkeit des Ausgangs ein blindes Schicksal, d. h. ein bloß unvernünftiges, unverstandenes Fatum, das viele antik nennen; sondern die Vernünftigkeit des Schicksals, obschon sie hier noch nicht als selbstbewußte Vorsehung erscheint, deren göttlicher Endzweck mit der Welt und den Individuen für sich und andere heraustritt, liegt eben darin, daß die höchste Gewalt, die über den einzelnen Göttern und Menschen steht, es nicht dulden kann, daß die einseitig sich verselbständigenden und dadurch die Grenze ihrer Befugnis überschreitenden Mächte sowie die Konflikte, welche hieraus folgen, Bestand erhalten. Das Fatum weist die Individualität in ihre Schranken zurück und zertrümmert sie, wenn sie sich überhoben hat. Ein unvernünftiger Zwang aber, eine Schuldlosigkeit des Leidens müßte statt sittlicher Beruhigung nur Indignation in der Seele des Zuschauers hervorbringen. - Nach einer anderen Seite unterscheidet sich deshalb die tragische Versöhnung auch ebensosehr wieder von der epischen.
Sehen wir in dieser Rücksicht auf Achill und Odysseus, so gelangen beide ans Ziel, und es gehört sich, daß sie es erreichen; aber es ist nicht ein stetes Glück, das sie begünstigt, sondern sie haben die Empfindung der Endlichkeit bitter zu kosten und müssen sich mühsam durch Schwierigkeiten, Verluste und Aufopferungen hindurchkämpfen. Denn so erfordert es die Wahrheit überhaupt, daß in dem Verlauf des Lebens und der objektiven Breite der Ereignisse auch die Nichtigkeit des Endlichen zur Erscheinung komme. So wird zwar Achilles' Zorn versöhnt, er erlangt von Agamemnon das, worin er beleidigt worden war, er nimmt an Hektor seine Rache, die Totenfeier für Patroklos wird vollbracht und Achill als der Herrlichste anerkannt; aber sein Zorn und dessen Versöhnung hat ihn eben seinen liebsten Freund, den edlen Patroklos, gekostet; um diesen Verlust an Hektor zu rächen, sieht er sich gezwungen, selber von seinem Zorne abzulassen und sich wieder in die Schlacht gegen die Troer zu begeben, und indem er als der Herrlichste gekannt ist, hat er zugleich die Empfindung seines frühen Todes. In der ähnlichen Weise langt Odysseus in Ithaka, diesem Ziel seiner Wünsche, endlich an, doch allein, schlafend, nach dem Verlust aller seiner Gefährten, aller Kriegsbeute vor llion, nach langen Jahren des Harrens und Abmühens. So haben beide ihre Schuld an die Endlichkeit abgetragen, und der Nemesis ist im Untergange Trojas und dem Schicksal der griechischen Helden ihr Recht geworden. Aber die Nemesis ist nur die alte Gerechtigkeit, die nur überhaupt das allzu Hohe herabsetzt, um das abstrakte Gleichgewicht des Glücks durch Unglück wiederherzustellen, und ohne nähere sittliche Bestimmung nur das endliche Sein berührt und trifft. Dies ist die epische Gerechtigkeit im Felde des Geschehens, die allgemeine Versöhnung bloßer Ausgleichung. Die höhere tragische Aussöhnung hingegen bezieht sich auf das Hervorgehen der bestimmten sittlichen Substantialitäten aus ihrem Gegensatze zu ihrer wahrhaften Harmonie. Die Art und Weise nun aber, diesen Einklang herzustellen, kann sehr verschiedener Art sein, und ich will deshalb nur auf die Hauptmomente, um die es sich in dieser Rücksicht handelt, aufmerksam machen.
Erstlich ist besonders herauszuheben, daß, wenn die Einseitigkeit des Pathos den eigentlichen Grund der Kollisionen ausmacht, dies hier nichts anderes heißt, als daß sie ins lebendige Handeln eingetreten und somit zum alleinigen Pathos eines bestimmten Individuums geworden ist. Soll nun die Einseitigkeit sich aufheben, so ist es also dies Individuum, das, insofern es nur als das eine Pathos gehandelt hat, abgestreift und aufgeopfert werden muß. Denn das Individuum ist nur dies eine Leben; gilt dies nicht fest für sich als dieses eine, so ist das Individuum zerbrochen.
Die vollständigste Art dieser Entwicklung ist dann möglich, wenn die streitenden Individuen, ihrem konkreten Dasein nach, an sich selbst jedes als Totalität auftreten, so daß sie an sich selber in der Gewalt dessen stehen, wogegen sie ankämpfen, und daher das verletzen, was sie ihrer eigenen Existenz gemäß ehren sollten. So lebt z. B. Antigone in der Staatsgewalt Kreons; sie selbst ist Königstochter und Braut des Hämon, so daß sie dem Gebot des Fürsten Gehorsam zollen sollte. Doch auch Kreon, der seinerseits Vater und Gatte ist, müßte die Heiligkeit des Bluts respektieren und nicht das befehlen, was dieser Pietät zuwiderläuft. So ist beiden an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselweise erheben, und sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen Daseins gehört. Antigone erleidet den Tod, ehe sie sich des bräutlichen Reigens erfreut, aber auch Kreon wird an seinem Sohne und seiner Gattin gestraft, die sich den Tod geben, der eine um Antigones, die andere um Hämons Tod. Von allem Herrlichen der alten und modernen Welt - ich kenne so ziemlich alles, und man soll es und kann es kennen - erscheint mir nach dieser Seite die Antigone als das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk.
Der tragische Ausgang nun aber bedarf zum Ablassen beider Einseitigkeiten und ihrer gleichen Ehre nicht jedesmal des Untergangs der beteiligten Individuen. So enden bekanntlich die Eumeniden des Aischylos nicht mit dem Tode Orests oder dem Verderben der Eumeniden, dieser Rächerinnen des Mutterbluts und der Pietät dem Apoll gegenüber, welcher die Würde und Verehrung des Familienhauptes und Königs aufrechterhalten will und den Orest angestiftet hatte, Klytämnestra zu töten, sondern dem Orest wird die Strafe erlassen und beiden Göttern die Ehre gegeben. Zugleich aber sehen wir an diesem entscheidenden Schlüsse deutlich, was den Griechen ihre Götter galten, wenn sie sich dieselben in ihrer kämpfenden Besonderheit vor die Anschauung brachten. Vor dem wirklichen Athen erscheinen sie nur als Momente, welche die volle harmonische Sittlichkeit zusammenbindet. Die Stimmen des Areopags sind gleich; es ist Athene, die Göttin, das lebendige Athen seiner Substanz nach vorgestellt, die den weißen Stein hinzufügt, den Orest freigibt, aber den Eumeniden ebenso als dem Apoll Altäre und Verehrung verspricht.
Dieser objektiven Versöhnung gegenüber kann die Ausgleichung zweitens subjektiver Art sein, indem die handelnde Individualität zuletzt ihre Einseitigkeit selber aufgibt. In dem Ablassen von ihrem substantiellen Pathos aber würde sie charakterlos erscheinen, was der Gediegenheit der plastischen Figuren widerspricht. Das Individuum kann sich deshalb nur gegen eine höhere Macht und deren Rat und Befehl aufgeben, so daß es für sich in seinem Pathos beharrt, durch einen Gott aber der starre Wille gebrochen wird. Der Knoten löst sich in diesem Falle nicht, sondern wird, wie im Philoktetz. B., durch einen Deus ex machina zerhauen.
Schöner endlich als diese mehr äußerliche Weise des Ausgangs ist die innerliche Aussöhnung, welche ihrer Subjektivität wegen bereits gegen das Moderne hinstreift. Das vollendeteste antike Beispiel hierfür haben wir in dem ewig zu bewundernden Ödipus auf Kolonos vor uns. Er hat seinen Vater unwissend erschlagen, den Thron Thebaes, das Bett der eigenen Mutter bestiegen; diese bewußtlosen Verbrechen machen ihn nicht unglücklich; aber der alte Rätsellöser zwingt das Wissen über sein eigenes dunkles Schicksal heraus und erhält nun das furchtbare Bewußtsein, daß er dies in sich geworden. Mit dieser Auflösung des Rätsels an ihm selber hat er wie Adam, als er zum Bewußtsein des Guten und Bösen kam, sein Glück verloren. Nun macht er, der Seher, sich blind, nun verbannt er sich vom Thron und scheidet von Theben, wie Adam und Eva aus dem Paradiese getrieben werden, und irrt, ein hilfloser Greis, umher. Doch den Schwerbelasteten, der in Kolonos, statt seines Sohnes Verlangen, daß er zurückkehren möge, zu erhören, ihm seine Erinnye zugesellt, der allen Zwiespalt in sich auslöscht und sich in sich selber reinigt, ruft ein Gott zu sich; sein blindes Auge wird verklärt und hell, seine Gebeine werden zum Heil, zum Horte der Stadt, die ihn gastfrei aufnahm. Diese Verklärung im Tode ist seine und unsere erscheinende Versöhnung in seiner Individualität und Persönlichkeit selber. Man hat einen christlichen Ton darin finden wollen, die Anschauung eines Sünders, den Gott zu Gnaden annimmt und das Schicksal, das an seiner Endlichkeit sich ausließ, im Tode durch Seligkeit vergütet. Die christliche religiöse Versöhnung aber ist eine Verklärung der Seele, die, im Quell des ewigen Heils gebadet, sich über ihre Wirklichkeit und Taten erhebt, indem sie das Herz selbst - denn dies vermag der Geist - zum Grabe des Herzens macht, die Anklagen der irdischen Schuld mit ihrer eigenen irdischen Individualität bezahlt und sich nun in der Gewißheit des ewigen, rein geistigen Seligseins in sich selbst gegen jene Anklagen festhält. Die Verklärung des Ödipus dagegen bleibt immer noch die antike Herstellung des Bewußtseins aus dem Streite sittlicher Mächte und Verletzungen zur Einheit und Harmonie dieses sittlichen Gehaltes selber.
Was jedoch Weiteres in dieser Versöhnung liegt, ist die Subjektivität der Befriedigung, aus welcher wir den Übergang in das entgegengesetzte Gebiet der Komödie machen können.
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