Magische Ethik – religiöse Ethik: Sündenbewußtsein, Erlösungsgedanke
Wo der Geisterglauben zum Götterglauben rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglaubens in die Vorstellung um: daß denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Mißfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnungen unter seinen speziellen Schutz gestellt hat. Es wird nun die Annahme möglich, daß es nicht Mangel an Macht des eigenen Gottes sei, wenn die Feinde siegen oder anderes Ungemach über das eigene Volk kommt, sondern daß der Zorn des eigenen, Gottes über seine Anhänger durch die Verletzungen der von ihm geschirmten ethischen Ordnungen erregt, die eigenen Sünden also daran schuld seien und daß der Gott mit einer ungünstigen Entscheidung gerade sein Lieblingsvolk hat züchtigen und erziehen wollen. Immer neue Missetaten Israels, eigene der jetzigen Generation oder solche der Vorfahren, wissen seine Propheten aufzufinden, auf welche der Gott mit seinem schier unersättlichen Zorn reagiert, indem er sein eigenes Volk anderen, die ihn gar nicht einmal anbeten, unterliegen läßt. Dieser Gedanke, in allen denkbaren Abwandlungen überall verbreitet, wo die Gotteskonzeption universalistische Züge annimmt, formt aus den magischen, lediglich mit der Vorstellung des bösen Zaubers operierenden Vorschriften die »religiöse Ethik«: Verstoß gegen den Willen des Gottes wird jetzt eine ethische »Sünde«, die das »Gewissen« belastet, ganz unabhängig von den unmittelbaren Folgen. Übel, die den Einzelnen treffen, sind gottgewollte Heimsuchungen und Folgen der Sünde, von denen der Einzelne durch ein Gott wohlgefälliges Verhalten: »Frömmigkeit«, befreit zu werden, »Erlösung« zu finden, hofft. Fast nur in diesem elementaren rationalen Sinn der Befreiung von ganz konkreten Übeln tritt der folgenschwere Gedanke der »Erlösung« noch im Alten Testament auf. Und die religiöse teilt mit der magischen Ethik zunächst durchaus auch die andere Eigenart: daß es ein Komplex oft höchst heterogener, aus den allerverschiedensten Motiven und Anlässen entstandener, nach unserer Empfindungsart »Wichtiges« und »Unwichtiges« überhaupt nicht scheidender, Gebote und Verbote ist, deren Verletzung die »Sünde« konstituiert. Nun aber kann eine Systematisierung dieser ethischen Konzeptionen eintreten, welche von dem rationalen Wunsch: durch gottgefälliges Tun sich persönliche äußere Annehmlichkeiten zu sichern, bis zu der Auffassung der Sünde als einer einheitlichen Macht des Widergöttlichen führt, in deren Gewalt der Mensch fällt, der »Güte« aber als einer einheitlichen Fähigkeit zur heiligen Gesinnung und einem aus ihr einheitlich folgenden Handeln und der Erlösungshoffnung als einer irrationalen Sehnsucht, »gut« sein zu können, lediglich oder doch primär um des bloßen beglückenden Besitzes des Bewußtseins willen, es zu sein. Eine lückenlose Stufenfolge der allerverschiedensten, immer wieder mit rein magischen Vorstellungen gekreuzten Konzeptionen führt zu diesen sehr selten und von der Alltagsreligiosität nur intermittierend in voller Reinheit erreichten Sublimierungen der Frömmigkeit als einer kontinuierlich, als konstantes Motiv wirkenden Grundlage einer spezifischen Lebensführung. Noch dem Vorstellungskreis des Magischen gehört jene Konzeption der »Sünde« und »Frömmigkeit« als einheitlicher Mächte an, welche beide als eine Art von materiellen Substanzen auffaßt, welche das Wesen des »böse« oder »gut« Handelnden nach Art eines Gifts oder eines dagegen wirkenden Heilserums oder nach Art etwa einer Körpertemperatur auffassen, wie sich das in Indien findet: »tapas«, die (durch Askese erreichte) Macht des Heiligen, die ein Mensch im Leibe hat, heißt ursprünglich jene »Hitze«, welche der Vogel beim Brüten, der Weltschöpfer bei der Erzeugung der Welt, der Magier bei der durch Mortifikation erzeugten heiligen Hysterie, welche zu übernatürlichen Fähigkeiten führt, in sich entwickelt. Von den durch die Vorstellungen: daß der gut Handelnde eine besondere »Seele« göttlicher Provenienz in sich aufgenommen habe und weiter bis zu den später zu erörternden Formen des innerlichen »Habens« des Göttlichen ist ein weiter Weg. Und ebenso von der Auffassung der »Sünde« als eines magisch zu kurierenden Gifts im Leibe des Übeltäters durch die Vorstellung eines bösen Dämons, von dem er besessen ist, bis zur teuflischen Macht des »radikal Bösen«, mit der er kämpft und der er in Gefahr ist zu verfallen.
Bei weitem nicht jede religiöse Ethik hat den Weg bis zu diesen Konzeptionen durchlaufen. Die Ethik des Konfuzianismus kennt das radikal Böse und überhaupt eine einheitliche widergöttliche Macht der »Sünde« nicht. Die hellenische und römische ebenfalls nicht. In beiden Fällen hat außer einem selbständigen organisierten Priestertum auch jene historische Erscheinung gefehlt, welche nicht unbedingt immer, aber allerdings normalerweise die Zentralisierung der Ethik unter dem Gesichtspunkt religiöser Erlösung schafft: die Prophetie. In Indien hat die Prophetie nicht gefehlt, aber – wie noch zu erörtern – einen sehr spezifischen Charakter gehabt, und dementsprechend auch die dort sehr hoch sublimierte Erlösungsethik. Prophetie und Priestertum sind die beiden Träger der Systematisierung und Rationalisierung der religiösen Ethik. Daneben aber fällt als dritter, die Entwicklung bestimmender Faktor der Einfluß derjenigen ins Gewicht, auf welche Propheten und Priester ethisch zu wirken suchen: der »Laien«. Wir müssen die Art des Mit- und Gegeneinanderwirkens dieser drei Faktoren zunächst ganz allgemein in Kürze erörtern.