Dogmatik und Gemeindebildung
Auch für die Entwicklung des spezifischen Inhalts der Priesterlehre bildet nicht den einzigen, wohl aber den stärksten Anreiz, die religiöse Gemeindebildung. Sie schafft die spezifische Wichtigkeit der Dogmen. Denn mit ihr tritt das Bedürfnis, gegen fremde konkurrierende Lehren sich abzugrenzen und propagandistisch die Oberhand zu behalten, beherrschend hervor und damit die Bedeutung der Unterscheidungslehre. Diese Bedeutung kann freilich durch außerreligiöse Motive wesentlich verstärkt werden. Daß Karl der Große für die fränkische Kirche auf dem filioque bestand – einem der Trennungsgründe zwischen Orient und Okzident – und den bilderfreundlichen Kanon ablehnte, hatte politische, gegen die byzantinische Kirchensuprematie gerichtete Gründe. Die Anhängerschaft an gänzlich unverständliche dogmatische Formeln, wie die monophysitische Lehre grade bei den breiten Massen im Orient und Ägypten, war Ausdruck des antikaiserlichen und antihellenischen separatistischen Nationalismus, wie ja später die monophysitische koptische Kirche die Araber als Herrscher den Römern vorzog. Und so oft. Aber regelmäßig ist es in der Hauptsache doch die priesterliche Bekämpfung des tiefverhaßten Indifferentismus, der Gefahr, daß der Eifer der Anhängerschaft erlahmt, ferner die Unterstreichung der Wichtigkeit der Zugehörigkeit zur eigenen Denomination und die Erschwerung des Übergangs zu anderen, was die Unterscheidungszeichen und -lehren so stark in den Vordergrund schiebt.
Das Vorbild geben die magisch bedingten Tätowierungen der Totem- oder Kriegsverbandsgenossen. Die Unterscheidungsbemalung der hinduistischen Sekten steht ihr äußerlich am nächsten. Aber die Beibehaltung der Beschneidung und des Sabbathtabu wird im Alten Testament wiederholt als auf die Unterscheidung von anderen Völkern abgezweckt hingestellt und hat jedenfalls mit unerhörter Stärke so gewirkt. Daß der christliche Wochenfeiertag auf den Tag des Sonnengottes gelegt wurde, war vielleicht durch die Übernahme des soteriologischen Mythos mystagogischer vorderasiatischer Erlösungslehren der Sonnenreligion mitbedingt, wirkte aber schroff scheidend gegen die Juden. Daß Muhammed seinen wöchentlichen Gottesdienst auf den Freitag verlegte, war, nachdem die Gewinnung der Juden mißglückte, vielleicht vornehmlich durch den Wunsch nach Unterscheidung bedingt, während sein absolutes Weinverbot in alter und neuer Zeit, schon bei den Rechabiten, bei Gottesstreitern, zu viel Analogien hat, um notwendig durch das Bedürfnis, einen Damm gegen die unter Weinzwang (beim Abendmahl) stehenden christlichen Priester aufzurichten, bedingt sein zu müssen, wie man geglaubt hat. Entsprechend dem Charakter der exemplarischen Prophetie haben die Unterscheidungslehren in Indien durchweg mehr rein praktisch-ethischen, oder, ihrer inneren Verwandtschaft mit der Mystagogie entsprechend, rituellen Charakter. Die berüchtigten 10 Punkte, welche auf dem Konzil von Vesâlî die große Spaltung des Buddhismus hervorriefen, enthalten lediglich Fragen der Mönchsregel, darunter offensichtlich Details, die nur zum Zweck der Begründung der mahâyânischen Sonderorganisation betont wurden. Dagegen kennen die asiatischen Religionen fast gar keine Dogmatik als Unterscheidungsmerkmal. Zwar verkündet der Buddha seine vierfache Wahrheit über die großen Illusionen als Begründung der praktischen Erlösungslehre des edlen achtfältigen Pfades. Aber die Erfassung jener Wahrheiten um ihrer praktischen Konsequenzen willen ist Ziel der Erlösungsarbeit, nicht eigentlich ein Dogma im Sinn des Okzidents. Ebensowohl bei der Mehrzahl der älteren indischen Prophetien. Und während in der christlichen Gemeinde eines der allerersten wirklich bindenden Dogmen charakteristischerweise die Erschaffung der Welt durch Gott aus dem Nichts war, die Festlegung also des überweltlichen Gottes gegenüber der gnostischen Intellektuellenspekulation, bleiben in Indien die kosmologischen und sonstigen metaphysischen Spekulationen eine Angelegenheit der Philosophenschulen, denen in bezug auf Orthodoxie eine zwar nicht schrankenlose, aber immerhin weitgehende Latitüde gewährt wurde. In China lehnte die konfuzianische Ethik die Bindung an metaphysische Dogmen schon deshalb gänzlich ab, weil die Magie und der Geisterglauben im Interesse der Erhaltung der Ahnenkulte: der Grundlage der patrimonial-bürokratischen Obödienz (wie ausdrücklich gesagt ist) unantastbar bleiben muß. Auch innerhalb der ethischen Prophetie und ihrer Gemeindereligiosität ist das Maß von eigentlicher Dogmenproliferation verschieden stark. Der alte Islâm begnügte sich mit dem Bekenntnis zu Gott und dem Propheten und den wenigen praktischen rituellen Hauptgeboten als Bedingung der Zugehörigkeit. Je mehr aber die Gemeinde und die Priester oder Gemeindelehrer Träger einer Religion sind, desto umfangreicher werden die dogmatischen Unterscheidungen praktischer und theoretischer Art. So bei den späteren Zarathustriern, den Juden, den Christen. Aber die Glaubenslehre der Juden teilt mit derjenigen des Islâm die Eigenschaft so großer Einfachheit, daß für eigentlich dogmatische Erörterungen nur ausnahmsweise Anlaß war. Nur die Gnadenlehre, im übrigen aber praktisch-sittliche, rituelle und rechtliche Fragen stellen in beiden Fällen das Streitgebiet dar. Bei den Zarathustriern steht es erst recht so. Nur bei den Christen hat sich eine umfangreiche, streng bindende und systematisch rationalisierte Dogmatik theoretischer Art teils über kosmologische Dinge, teils über den soteriologischen Mythos (Christologie), teils über die Priestergewalt (die Sakramente) gebildet, zunächst auf dem Boden der hellenistischen Reichshälfte, im Mittelalter umgekehrt im Abendland wesentlich stärker als in den orientalischen Kirchen, in beiden Fällen da am stärksten, wo eine starke Organisation der Priesterschaft gegenüber den politischen Gewalten das größte Maß von Selbständigkeit besaß. Aber vor allem die Eigenart des von der hellenischen Bildung herkommenden Intellektuellentums, die besonderen metaphysischen Voraussetzungen und Spannungen, welche der Christuskult schuf, und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der zunächst außerhalb der Christengemeinde gebliebenen Bildungsschicht einerseits, andererseits die wieder sozial bedingte, den reinen Intellektualismus, im Gegensatz zu den asiatischen Religionen, mißtrauisch ablehnende Art der Stellung der christlichen Kirchen als einer Gemeindereligiosität von stark kleinbürgerlichen Laien, auf deren Stellung die Bischöfe Rücksicht zu nehmen hatten, waren es, welche im Altertum dieses Maß und diese Tendenz zur starken Dogmenentwicklung provozierten. Mit der Vernichtung der Ellênthê paideia, durch die im Orient stark aus kleinbürgerlichen unhellenischen Kreisen aufsteigenden Mönche war auch die rationale Dogmenbildung im Orient zu Ende.
Daneben aber sprach auch die Organisationsform der Religionsgemeinschaften mit; das völlige und absichtsvolle Fehlen jeglicher hierarchischen Organisation im alten Buddhismus würde jede Einigung über eine rationale Dogmatik nach christlicher Art, wenn die Erlösungslehre einer solchen überhaupt bedurft hätte, gehemmt haben. Denn damit die priesterliche Gedankenarbeit und der mit ihr konkurrierende, durch die priesterliche Erziehung geweckte Laienrationalismus die Einheit der Gemeinde nicht gefährde, pflegt eine Instanz postuliert zu werden, welche über die Orthodoxie einer Lehre entscheidet. In einer hier nicht zu erörternden langen Entwicklung hat die römische [Gemeinde], aus der Hoffnung, daß Gott die Gemeinde der Welthauptstadt nicht werde irren lassen, das unfehlbare Lehramt ihres Bischofs entstehen lassen. Nur hier besteht diese konsequente Lösung, welche die Inspiration des Lehramtsträgers in Fällen der Lehrentscheidung voraussetzt. Sowohl der Islâm wie die orientalische Kirche – der erstere in Anknüpfung an die Zuversicht des Propheten: daß Gott die Gemeinde der Gläubigen nie in einem Irrtum werde übereinstimmen lassen, die letztere in Anlehnung an die altkirchliche Praxis – hielten aus mehrfachen heterogenen, später zu erwähnenden Motiven an dem »Konsens« der berufenen Träger der kirchlichen Lehrorganisation, je nachdem also mehr der Priester oder mehr der Theologen, als Bedingung der Gültigkeit dogmatischer Wahrheit fest und haben damit die Dogmenproliferation gehemmt. Der Dalai Lama andererseits hat zwar neben der politischen eine kirchenregimentliche, aber bei dem magisch-ritualistischen Charakter der Religiosität keine eigentliche Lehramtsgewalt. Die Exkommunikationsgewalt hinduistischer Gurus wird aus ähnlichen Gründen, schwerlich aus dogmatischen Anlässen angewendet. –