Ekstase, Orgie, Euphorie und rationale religiöse Heilsmethodik
Die Ekstase als Mittel der »Erlösung« oder »Selbstvergottung«, als welches sie uns hier allein angeht, kann mehr den Charakter einer akuten Entrücktheit und Besessenheit oder mehr den chronischen eines, je nachdem, mehr kontemplativ oder mehr aktiv gesteigerten spezifisch religiösen Habitus, sei es im Sinne einer größeren Lebensintensität oder auch Lebensfremdheit haben. Für die Erzeugung der lediglich akuten Ekstase war natürlich nicht die planvolle Heilsmethodik der Weg, sondern ihr dienten vorzüglich die Mittel zur Durchbrechung aller organischen Gehemmtheiten: die Erzeugung akuten toxischen (alkoholischen oder durch Tabak oder andere Gifte erzielten) oder musikalisch-orchestrischen oder erotischen Rausches (oder aller drei Arten zusammen): die Orgie. Oder man provozierte bei dazu Qualifizierten hysterische oder epileptoide Anfälle, welche die orgiastischen Zustände bei den anderen hervorriefen. Diese akuten Ekstasen sind aber der Natur der Sache und auch der Absicht nach transitorisch. Sie hinterlassen für den Alltagshabitus wenig positive Spuren. Und sie entbehren des »sinnhaften« Gehalts, den die prophetische Religiosität entfaltet. Die milderen Formen einer, je nachdem, mehr traumhaft (mystischen) als »Erleuchtung« oder mehr aktiv (ethischen) als Bekehrung empfundenen Euphorie scheinen dagegen den dauernden Besitz des charismatischen Zustands sicherer zu verbürgen, ergeben eine sinnhafte Beziehung zur »Welt« und entsprechen qualitativ den Wertungen einer »ewigen« Ordnung oder eines ethischen Gottes, wie ihn die Prophetie verkündet. Schon die Magie kennt, wie wir sahen, eine systematische Heilsmethodik zur »Erweckung« der charismatischen Qualitäten neben der nur akuten Orgie. Denn der Berufszauberer und Berufskrieger bedarf nicht nur der akuten Ekstase, sondern des charismatischen Dauerhabitus. Die Propheten einer ethischen Erlösung bedürfen aber des orgiastischen Rausches nicht nur nicht, – er steht der systematischen ethischen Lebensführung, die sie verlangen, geradezu im Wege. Gegen ihn vornehmlich, gegen den menschenunwürdigen und tierquälerischen Rauschkult des Somaopfers, wendet sich daher der zornige ethische Rationalismus Zarathustras ganz ebenso wie derjenige des Moses gegen die Tanzorgie und wie die meisten Stifter oder Propheten ethisch rationaler Religionen gegen die »Hurerei«, d.h. gegen die orgiastische Tempelprostitution sich gewendet haben. Mit zunehmender Rationalisierung wird das Ziel der religiösen Heilsmethodik daher immer mehr die Herabstimmung des durch die Orgie erreichten akuten Rauschs in einen chronisch und vor allem bewußt besessenen Habitus. Die Entwicklung ist dabei auch durch die Art der Konzeption des »Göttlichen« bedingt. Überall bleibt zunächst natürlich der höchste Zweck, dem die Heilsmethodik dienen kann, der gleiche, dem in akuter Form auch die Orgie dient: die Inkarnation übersinnlicher Wesen, nunmehr also: eines Gottes, im Menschen: die Selbstvergottung. Nur soll dies jetzt möglichst zu einem Dauerhabitus werden. Die Heilsmethodik ist also auf diesseitigen Besitz des Göttlichen selbst ausgerichtet. Wo nun aber ein allmächtiger überweltlicher Gott den Kreaturen gegenübersteht, da kann Ziel der Heilsmethodik nicht mehr die Selbstvergottung in diesem Sinn sein, sondern die Erringung der von jenem Gott geforderten religiösen Qualitäten: sie wird damit jenseitig und ethisch orientiert, will nicht Gott »besitzen« – das kann man nicht –, sondern entweder 1. Gottes »Werkzeug« oder 2. von ihm zuständlich erfüllt sein. Der zweite Habitus steht ersichtlich der Selbstvergottungsidee näher als der erste. Dieser Unterschied hat, wie später zu erörtern sein wird, wichtige Folgen für die Art der Heilsmethodik selbst. Aber zunächst besteht in wichtigen Punkten Übereinstimmung. Das Nichtgöttliche ist es ja in beiden Fällen, das vom Alltagsmenschen abgestreift werden muß, damit er einem Gott gleich sein könne. Und das Nichtgöttliche ist vor allem der Alltagshabitus des menschlichen Körpers und die Alltagswelt so, wie beide naturhaft gegeben sind. Hier knüpft die soteriologische Heilsmethodik direkt an ihre magische [Vorgängerin] an, deren Methoden sie nur rationalisiert und ihren andersartigen Vorstellungen vom Wesen des Übermenschlichen und von dem Sinn des religiösen Heilsbesitzes anpaßt. Die Erfahrung lehrte, daß durch hysterisierende »Abtötung« es bei Qualifizierten möglich war, den Körper unempfindlich oder kataleptisch starr zu machen, ihm allerhand Leistungen zuzumuten, welche eine normale Innervation niemals hervorbringen konnte, daß gerade dann besonders leicht alle Arten visionärer und pneumatischer Vorgänge, Zungenreden, hypnotische und andere suggestive Macht bei dem einen, Leibhaftigkeitsgefühle, Dispositionen zur mystischen Erleuchtung und ethischen Bekehrung, zu tiefem Sündenschmerz und frohem Gottinnigkeitsgefühl, oft in jähem Wechsel miteinander, bei dem andern sich einstellten, daß dagegen alles dies bei rein »naturhafter« Hingabe an die Funktionen und Bedürfnisse des Körpers oder an ablenkende Alltagsinteressen wieder dahinschwand. Die Konsequenzen daraus für das Verhalten zur naturhaften Körperlichkeit und zum sozialen und ökonomischen Alltag sind bei entwickelter Erlösungssehnsucht überall irgendwie gezogen worden.