Vielfältigkeit »bürgerlicher« Religiosität. Ökonomischer und religiös-ethischer Rationalismus
Wenn für die religiöse Stellung der normalerweise am stärksten positiv privilegierten Schichten, des Adels und der Bürokratie, sich bei allen sehr starken Unterschieden doch gewisse gleichartige Tendenzen angeben lassen, so zeigen die eigentlich »bürgerlichen« Schichten die stärksten Kontraste. Und zwar auch ganz abgesehen von den überaus starken ständischen Gegensätzen, welche diese Schichten in sich selbst entfalten. Denn zunächst die »Kaufleute« sind teils Angehörige der höchstprivilegierten Schicht, so der antike städtische Patriziat, teils Parias, wie die besitzlosen Wanderhändler, teils privilegierte, aber hinter dem Adel oder dem Beamtentum ständisch zurückstehende, oder nicht oder selbst negativ privilegierte, aber faktisch mächtige Schichten, wie der Reihe nach die römische »Ritterschaft«, die hellenischen Metöken, die mittelalterlichen Gewandschneider und verwandte Händlerschichten, ferner die Geldleute und großen Kaufleute in Babel, die chinesischen und indischen Händler, schließlich die »Bourgeoisie« der beginnenden Neuzeit.
Die Stellung des kaufmännischen Patriziats zur Religiosität zeigt, unabhängig von diesen Unterschieden der Lage, in allen Epochen eigentümliche Kontraste. Die energisch diesseitige Einstellung ihres Lebens legt ihnen an sich den Anschluß an eine prophetische oder ethische Religiosität wenig nahe. Die Großkaufleute der Antike und des Mittelalters sind Träger des spezifischen, unstetigen, nicht betriebsmäßigen »Gelegenheitsgelderwerbes«, Kapitalgeber der kapitallosen reisenden Händler, in historischer Zeit teils ein stadtsässiger, durch diesen Gelegenheitserwerb reich gewordener Adel mit ursprünglich grundherrlicher Basis, teils umgekehrt ein zu Grundbesitz gelangter Händlerstand mit Tendenz zum Aufstieg in die Adelsgeschlechter. Dazu treten mit geldwirtschaftlicher Deckung des politischen Bedarfs die Vertreter des politisch an Staatslieferungen und Staatskredit orientierten und des Kolonialkapitalismus, wie er in allen geschichtlichen Epochen sich fand. Alle diese Schichten sind nirgends primäre Träger einer ethischen oder Erlösungsreligiosität gewesen. Je privilegierter die Lage der Händlerschaft war, desto weniger zeigt sie überhaupt Neigung zur Entwicklung einer Jenseitsreligion. Die Religion der adeligen plutokratischen phönikischen Händlerstädte ist rein diesseitig gewendet und, soweit bekannt, gänzlich unprophetisch. Dabei aber ist die Intensität der Religiosität und die Angst vor den mit düsteren Zügen ausgestatteten Göttern sehr bedeutend. Der althellenische kriegerische, dabei aber halb seeräuberische, halb händlerische Seefahreradel dagegen hat das religiöse Dokument dessen, was ihm behagte, in der Odyssee mit ihrer immerhin starken Respektlosigkeit gegenüber den Göttern hinterlassen. Der chinesische taoistische Reichtumsgott, der von der Kaufmannschaft ziemlich universell verehrt wird, zeigt keine ethischen Züge, sondern ist rein magischen Charakters. Auch der Kult des hellenischen, freilich vorwiegend agrarischen Reichtumsgottes Pluto bildet einen Teil der eleusinischen Mysterien, welche abgesehen von ritueller Reinheit und Freiheit von Blutschuld keinerlei ethische Anforderungen stellen. Die Freigelassenenschicht mit ihrer sehr starken Kapitalkraft suchte Augustus in charakteristischer Politik zu spezifischen Trägern des Kaiserkults durch Schaffung der Augustalenwürde zu machen; eigene, ihr spezifische Richtungen religiösen Interesses weist diese Schicht sonst nicht auf. Der Teil der Kaufmannschaft in Indien, welcher hinduistischer Religiosität ist, namentlich auch jene Bankierskreise, die aus den alten staatskapitalistischen Geldgeberoder Großhändlerkreisen hervorgegangen sind, sind meist Vallabhâchârîs, d.h. Anhänger der von Vallabha Svamî reformierten, vishnuitischen Priesterschaft der Gokulastha Gosâins und pflegen eine Form der erotomorphen Krishna- und Râdhâdevotion, deren Kultmahle zu Ehren des Heilandes zu einer Art von erlesenem Diner raffiniert sind. Die Großhändlerschaften der Guelfenstädte des Mittelalters, wie etwa die Arte di Calimala, sind zwar gut päpstlich in der Politik, fanden sich aber oft durch ziemlich mechanische und direkt wie Spott wirkende Mittel mit dem Wucherverbote der Kirche ab. Die großen und vornehmen Handelsherren des protestantischen Holland waren, als Arminianer, religiös spezifisch realpolitisch und die Hauptgegner des calvinistischen ethischen Rigorismus. Skepsis oder Gleichmut sind und waren überall eine sehr weit verbreitete Stellungnahme der Großhändler und Großgeldgeberkreise zur Religiosität.
Diesen leicht verständlichen Erscheinungen steht nun aber gegenüber: daß in der Vergangenheit die Neubildungen von Kapital, genauer ausgedrückt: von kontinuierlich betriebsmäßig in rationaler Weise zur Gewinnerzeugung verwertetem Geldbesitz, und zwar zumal von industriellem, also spezifisch modern verwertetem Kapital, in höchst auffallender Art und Häufigkeit mit rationaler ethischer Gemeindereligiosität der betreffenden Schichten verknüpft waren. Schon in den Handel Indiens teilen sich (geographisch) die Anhänger der noch in ihrer Modernisierung, welche die ritualistischen Reinheitsgebote als hygienische Vorschriften interpretiert, ethisch, besonders durch ihr bedingungsloses Wahrheitsgebot, rigoristischen Religion Zarathustras (Parsis), deren Wirtschaftsmoral ursprünglich nur den Ackerbau als Gott wohlgefällig anerkannte und allen bürgerlichen Erwerb perhorreszierte, einerseits und andererseits die Jainasekte, also die am spezifischsten asketische Religiosität, welche es in Indien überhaupt gibt, mit den schon oben erwähnten Vallabhâchianern (immerhin, bei allem antirationalen Charakter der Kulte, einer als Gemeindereligiosität konstituierten Erlösungslehre). Ob es richtig ist, daß die islâmische Kaufmannsreligiosität besonders häufig Derwîsch-Religiosität ist, kann ich nicht kontrollieren, doch ist es nicht unwahrscheinlich. Die ethisch rationale jüdische Gemeindereligiosität ist schon im Altertum sehr stark Händler- und Geldgeberreligiosität. In geringerem, aber doch merklichem Maße ist auch die mittelalterliche christliche, ketzerisch- sektiererische oder an das Sektentum streifende Gemeindereligiosität zwar nicht Händler-, aber doch »bürgerliche« Religiosität, und zwar je ethisch rationaler sie war, desto mehr. Vor allem aber haben sich die sämtlichen Formen des west- und osteuropäischen asketischen Protestantismus und Sektentums: Zwinglianer, Calvinisten, Reformierte, Baptisten, Mennoniten, Quäker, reformierte und in geringerer Intensität auch lutherische Pietisten, Methodisten, ebenso die russischen schismatischen und ketzerischen, vor allem die rationalen pietistischen Sekten, unter ihnen speziell die Stundisten und die Skopzen, zwar in sehr verschiedener Art, durchweg aber auf das engste mit ökonomisch rationalen und – wo solche ökonomisch möglich waren – kapitalistischen Entwicklungen verknüpft. Und zwar wird die Neigung zur Anhängerschaft an eine ethisch rationale Gemeindereligiosität im allgemeinen um so stärker, je mehr man von jenen Schichten sich entfernt, welche Träger des vornehmlich politisch bedingten Kapitalismus waren, wie er seit Hammurabis Zeit überall, wo es Steuerpacht, Staatslieferantenprofit, Krieg, Seeraub, Großwucher, Kolonisation gab, existierte, und je mehr man sich denjenigen Schichten nähert, welche Träger moderner, rationaler Betriebsökonomik, d.h. also Schichten mit bürgerlichem ökonomischem Klassencharakter (im später zu erörternden Sinn) waren. Die bloße Existenz von »Kapitalismus« irgendwelcher Art genügt offensichtlich ganz und gar nicht, um ihrerseits eine einheitliche Ethik, geschweige denn eine ethische Gemeindereligiosität aus sich zu erzeugen. Sie wirkt von sich aus offenbar nicht eindeutig. Die Art des Kausalzusammenhangs der religiösen rationalen Ethik mit der besonderen Art des kaufmännischen Rationalismus da, wo dieser Zusammenhang besteht, lassen wir vorläufig noch außer Betracht und stellen zunächst nur fest: daß eine, außerhalb der Stätte des ökonomischen Rationalismus, also außerhalb des Okzidents nur gelegentlich, innerhalb seiner aber deutlich, und zwar je mehr wir uns den klassischen Trägern des ökonomischen Rationalismus nähern, desto deutlicher zu beobachtende Wahlverwandtschaft zwischen ökonomischem Rationalismus einerseits und gewissen, später näher zu charakterisierenden Arten von ethischrigoristischer Religiosität andererseits zu beobachten ist.