Systematisierung und Rationalisierung der Heilsmethodik und Lebensführung


Die spezifischen Mittel der soteriologischen Heilsmethodik sind in ihrer raffiniertesten Entwicklung fast alle indischer Provenienz. Sie sind dort in unbezweifelbarer Anlehnung an die Methodik magischen Geisterzwangs entfaltet worden. In Indien selbst haben diese Mittel zunehmend die Tendenz gehabt, zur Selbstvergottungsmethodik zu werden, und haben dort auch diesen Charakter nie wieder ganz verloren. Er ist vorherrschend vom Soma-Rauschkult der altvedischen Zeit bis zu den sublimen Methoden der Intellektuellenekstase einerseits und andererseits zu der, die volkstümlichste hinduistische Religiosität: den Krishnakult, noch bis heute in grober oder feiner Form beherrschenden, erotischen (realen oder in der Phantasie im Kult innerlich vollzogenen) Orgie. Durch den Sûfîsmus ist die sublimierte Intellektuellenekstase sowohl wie andererseits auch die Derwîsch-Orgie, wenn auch in gemilderter Form, in den Islâm getragen worden. Inder sind, bis nach Bosnien hinein (nach einer authentischen Mitteilung Dr. Franks16 aus den letzten Monaten), noch jetzt dort deren typische Träger. Die beiden größten religiös- rationalistischen Mächte der Geschichte: die römische Kirche im Okzident, der Konfuzianismus in China haben sie in diesen Gebieten konsequent unterdrückt oder doch zu den Formen der bernhardinischen halberotischen Mystik, der Marieninbrunst und des Quietismus der Gegenreformation oder zu dem Zinzendorfschen Gefühlspietismus sublimiert. Der spezifisch außeralltägliche, das Handeln im Alltag entweder gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne einer gesteigerten Rationalisierung und Systematisierung beeinflussende Charakter aller orgiastischen und speziell aller erotischen Kulte ist in der negativen Bedeutung der hinduistischen und ebenso (im allgemeinen) der Derwîsch-Religiosität für die Schaffung einer Methodik der Alltagslebensführung greifbar.

Die Entwicklung zur Systematisierung und Rationalisierung der Aneignung religiöser Heilsgüter richtete sich aber gerade auf die Beseitigung dieses Widerspruchs zwischen alltäglichem und außeralltäglichem religiösen Habitus. Aus der unermeßlichen Fülle jener inneren Zuständlichkeiten, welche die Heilsmethodik erzeugen konnte, schälten sich schließlich einige wenige deshalb als eigentlich zentral heraus, weil sie nicht nur eine außeralltägliche, seelischkörperliche Einzelverfassung darstellten, sondern das sichere und kontinuierliche Haben des spezifischen religiösen Heilsguts in sich zu schließen schienen: die Gnadengewißheit (»certitudo salutis«, »perseverantia gratiae«). Die Gnadengewißheit mochte nun mehr mystische oder mehr aktiv ethische Färbung haben – wovon sehr bald zu reden sein wird –, in jedem Fall bedeutete sie den bewußten Besitz einer dauernden einheitlichen Grundlage der Lebensführung. Im Interesse der Bewußtheit des religiösen Besitzes tritt an Stelle der Orgie einerseits, der irrationalen, lediglich irritierenden und emotionellen Abtötungsmittel andererseits, zunächst die planvolle Herabsetzung der körperlichen Funktionen: kontinuierliche Unterernährung, sexuelle Enthaltung, Regulierung der Atemfrequenz u. dgl. Ferner das Trainieren der seelischen Vorgänge und des Denkens in der Richtung systematischer Konzentration der Seele auf das religiös allein Wesentliche: die indische Yoga-Technik, die kontinuierliche Wiederholung heiliger Silben (des »Om«), das Meditieren über Kreise und andere Figuren, das Bewußtsein planmäßig »entleerende« Exerzitien u. dgl. Im Interesse der Dauer und Gleichmäßigkeit des religiösen Besitzes aber führte die Rationalisierung der Heilsmethodik schließlich wieder auch darüber hinaus und, scheinbar gerade umgekehrt, zu einer planvollen Begrenzung der Übungen auf solche Mittel, welche die Kontinuierlichkeit des religiösen Habitus verbürgten, und das bedeutete: zur Ausschaltung aller hygienisch irrationalen Mittel. Denn wie jede Art von Rausch, die orgiastische Heldenekstase ebenso wie die erotischen Orgien und der Tanzrausch, unvermeidlich mit physischem Kollaps wechselte, so die hysterische Erfülltheit vom Pneuma mit dem psychischen Kollaps, religiös gewendet: mit Zuständen tiefster Gottverlassenheit. Und wie deshalb die Pflege disziplinierten kriegerischen Heldentums bei den Hellenen die Heldenekstase schließlich zur stetigen Ausgeglichenheit der »Sophrosyne« ausbalancierte, welche nur die rein musikalisch-rhythmisch erzeugten Formen der Ekstasis duldete und auch dabei – ganz ebenso, nur nicht so weitgehend wie der die Pentatonik allein zulassende konfuzianische Rationalismus – sehr sorgsam das »Ethos« der Musik als »politisch« richtig abwog, so entwickelte sich die mönchische Heilsmethodik immer rationaler, in Indien ebenso bis zu derjenigen des alten Buddhismus, wie im Abendland bis zu der Methodik des historisch wirksamsten Mönchsordens: der Jesuiten. Immer mehr wird die Methodik dabei zu einer Kombination physischer und psychischer Hygienik mit ebenso methodischer Regulierung alles Denkens und Tuns, nach Art und Inhalt, im Sinn der vollkommensten wachen, willensmäßigen und triebfeindlichen Beherrschung der eigenen körperlichen und seelischen Vorgänge und einer systematischen Lebensreglementierung in Unterordnung unter den religiösen Zweck. Der Weg zu diesem Ziel und der nähere Inhalt des Zieles selbst sind an sich nicht eindeutig, und die Konsequenz der Durchführung der Methodik ist ebenfalls sehr schwankend.


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