Religiöse Systematisierung der Alltagsethik


Auf einem anderen und indirekten Wege kann eine ritualistische Religiosität da ethisch wirken, wo die Erfüllung der Ritualgebote das aktive rituelle Handeln (oder Unterlassen) des Laien fordert und nun die formalistische Seite des Ritus zu einem umfassenden »Gesetz« derart systematisiert wird, daß es einer besonderen Schulung und Lehre bedarf, um es überhaupt genügend zu kennen, wie es im Judentum der Fall war. Daß der Jude schon im Altertum, wie Philo hervorhebt, im Gegensatz zu allen anderen Völkern, von früher Jugend an, nach Art unserer Volksschule, fortgesetzt intellektuell systematisch-kasuistisch trainiert wurde, daß auch in der Neuzeit z.B. in Osteuropa aus diesem Grunde nur die Juden systematische Volksschulbildung genossen, ist die Folge dieses Schriftgelehrsamkeitscharakters des jüdischen Gesetzes, welches die jüdischen Frommen schon im Altertum veranlaßte, den im Studium des Gesetzes Ungebildeten, den Amhaarez, mit den Gottlosen zu identifizieren. Eine derartige kasuistische Schulung des Intellekts kann sich natürlich auch im Alltag fühlbar machen, um so mehr, wenn es sich nicht mehr – wie vorwiegend im indischen Recht – um bloß rituelle kultische Pflichten, sondern um eine systematische Reglementierung auch der Alltagsethik handelt. Die Erlösungswerke sind dann eben bereits vorwiegend andere als kultische Leistungen, insbesondere

2. soziale Leistungen. Sie können sehr verschiedenen Charakter haben. Die Kriegsgötter z.B. nehmen sehr oft in ihr Paradies nur die in der Schlacht Gefallenen auf oder diese werden doch prämiiert. Für den König empfahl die brahmanische Ethik direkt, daß er den Tod in der Schlacht suchen möge, wenn er den Sohn seines Sohnes sehe. Auf der andern Seite können sie Werke der »Nächstenliebe« sein. In jedem Fall aber kann die Systematisierung einsetzen, und es ist, wie wir sahen, regelmäßig die Funktion der Prophetie, eben dies zu finden. Die Systematisierung einer Ethik der »guten Werke« kann aber zweierlei verschiedenen Charakter annehmen. Die einzelnen Tugend- und Untugendhandlungen können entweder als einzelne gewertet und dem Erlösungsbedürftigen positiv und negativ zugerechnet werden. Der Einzelne als Träger seines Handelns erscheint dann als ein in seinem ethischen Standard labiles, je nach der inneren oder äußeren Situation den Versuchungen gegenüber bald stärkeres, bald schwächeres Wesen, dessen religiöses Schicksal von den tatsächlichen Leistungen in ihrem Verhältnis zueinander abhängt. Dies ist am eindeutigsten der Standpunkt der zarathustrischen Religion gerade in den ältesten Gâthâs des Stifters selbst, welche den Totenrichter Schuld und Verdienst der einzelnen Handlungen in genauer Buchführung gegeneinander abwägen und je nach dem Ergebnis dieser Kontokorrentrechnung dem Einzelnen sein religiöses Schicksal zumessen lassen. Es ist in noch gesteigertem Maße die Konsequenz der indischen Karmanlehre: daß innerhalb des ethischen Mechanismus der Welt keine einzelne gute oder böse Handlung jemals verloren geht, jede vielmehr unabwendbar und rein mechanisch ihre Konsequenzen, sei es in diesem Leben, sei es bei einer künftigen Wiedergeburt, nach sich ziehen müsse. Das Kontokorrentprinzip ist im wesentlichen auch die populäre Grundanschauung des Judentums von dem Verhältnis des Einzelnen zu Gott geblieben. Und endlich stehen auch, wenigstens in ihrer Praxis, der römische Katholizismus und die orientalischen Kirchen diesem Standpunkt nahe. Denn die »intentio«, auf welche es nach der Sündenlehre des Katholizismus für die ethische Bewertung des Handelns ankommt, ist nicht eine einheitliche Persönlichkeitsqualität, deren Ausdruck die Handlung ist, sondern sie ist, im Sinne etwa von bona fides, mala fides, culpa, dolus des römischen Rechts, die »Meinung« bei der konkreten einzelnen Handlung. Wo diese Auffassung konsequent bleibt, verzichtet sie auf das Verlangen der »Wiedergeburt« im strengen gesinnungsethischen Sinn. Die Lebensführung bleibt ein ethisch unmethodisches Nacheinander einzelner Handlungen.

Oder die ethische Systematisierung behandelt die Einzelleistung nur als Symptom und Ausdruck einer entsprechenden ethischen Gesamtpersönlichkeit, die sich darin ausspricht. Bekannt ist, daß der rigoristische Teil der Spartiaten einen Genossen, der den Tod in der Schlacht gefunden, aber auch gesucht hatte, um eine frühere Feigheit zu sühnen – als eine Art von »Reinigungsmensur« also –, für nicht rehabilitiert ansah, weil er »aus Gründen« tapfer gewesen sei, und nicht »aus der Gesamtheit seines Wesens heraus«, würden wir uns etwa ausdrücken. Religiös gewendet heißt das: an Stelle der formalen Werkheiligkeit durch äußere Einzelleistungen tritt auch hier der Wert des persönlichen Gesamthabitus, in diesem Fall: der habituellen Heldengesinnung. Ähnlich steht es mit allen sozialen Leistungen, sie mögen aussehen wie sie wollen. Sind sie solche der »Nächstenliebe«, so fordert die Systematisierung den Besitz des Charisma der »Güte«. In jedem Fall aber kommt es dann letztlich auf die Art der einzelnen Handlung nur soweit an, als sie wirklich »symptomatischen« Charakter hat, sonst aber, wenn sie ein Produkt des »Zufalls« ist, nicht.

Die Gesinnungsethik kann also gerade nach ihrer systematisiertesten Form bei hoch gesteigerten Ansprüchen an das Gesamtniveau gegen einzelne Verstöße duldsamer sein. Aber sie ist es durchaus nicht immer, vielmehr ist sie meist die spezifische Form des ethischen Rigorismus. Der religiös positiv qualifizierte Gesamthabitus kann dabei entweder reines göttliches Gnadengeschenk sein, dessen Existenz sich eben in jener generellen Gerichtetheit auf das religiös Geforderte: einer einheitlich methodisch orientierten Lebensführung äußert. Oder er kann umgekehrt durch »Einübung« des Guten im Prinzip erwerbbar sein. Auch diese Einübung kann aber naturgemäß nur durch rationale methodische Richtung der Gesamtlebensführung, nicht durch einzelne zusammenhangslose Handlungen erfolgen. Das Resultat ist also praktisch in beiden Fällen sehr ähnlich. Damit rückt dann aber die sozial-ethische Qualität des Handelns gänzlich in die zweite Linie. Auf die religiöse Arbeit an der eigenen Person kommt vielmehr alles an. Die religiös qualifizierten, sozial gewendeten guten Werke sind dann lediglich Mittel

3. der Selbstvervollkommnung: der »Heilsmethodik«. Heilsmethodik kennt nicht erst die ethische Religiosität. Im Gegenteil spielt sie in oft hochgradig systematisierter Form eine sehr bedeutende Rolle bei der Erweckung zu jener charismatischen Wiedergeburt, welche den Besitz der magischen Kräfte, in animistischer Wendung: die Verkörperung einer neuen Seele innerhalb der eigenen Person, oder die Besessenheit von einem starken Dämon oder die Entrücktheit in das Geisterreich, in beiden Fällen aber die Möglichkeit übermenschlicher Wirkungen verbürgt. Nicht nur liegt dabei ein »jenseitiges« Ziel ganz fern. Sondern man braucht die Fähigkeit zur Ekstase zu den verschiedensten Zwecken: auch der Kriegsheld muß ja, um übermenschliche Heldentaten zu vollbringen, durch Wiedergeburt eine neue Seele erwerben. In allen jenen Resten von Jünglingsweihe, von Bekleidung mit den Mannesinsignien (China, Indien – die [Angehörigen] der höheren Kasten heißen bekanntlich: die zweimal Geborenen), Rezeptionen in die religiöse Bruderschaft der Phratrie, Wehrhaftmachung steckt der ursprüngliche Sinn der »Wiedergeburt«, je nachdem als »Held« oder als »Magier«. Sie sind ursprünglich alle verknüpft mit Handlungen, welche Ekstase erzeugen oder symbolisieren, und die Vorübung darauf hat den Zweck, die Fähigkeit dafür zu erproben und zu wecken.


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