Kleinbürgerintellektualismus im Juden- und Frühchristentum
Diese philosophische, von – durchschnittlich – sozial und ökonomisch versorgten Klassen, vornehmlich von apolitischen Adligen oder Rentnern, Beamten, kirchlichen, klösterlichen, Hochschul- oder anderen Pfründnern irgendwelcher Art getragene Art von Intellektualismus ist aber nicht die einzige und oft nicht die vornehmlich religiös relevante. Daneben steht: der proletaroide Intellektualismus, mit dem vornehmen Intellektualismus überall durch gleitende Übergänge verbunden, und nur in der Art der typischen Sinnesrichtung von ihm verschieden. Die am Rande des Existenzminimums stehenden, meist nur mit einer als subaltern geltenden Bildung ausgerüsteten kleinen Beamten und Kleinpfründner aller Zeiten, die nicht zu den privilegierten Schichten gehörigen Schriftkundigen in Zeiten, wo das Schreiben ein Spezialberuf war, die Elementarlehrer aller Art, die wandernden Sänger, Vorleser, Erzähler, Rezitatoren und ähnliche freie proletaroide Berufe gehören dazu. Vor allem aber: die autodidaktische Intelligenz der negativ privilegierten Schichten, wie sie in der Gegenwart in Europa im Osten am klassischsten die russische proletaroide Bauernintelligenz, außerdem im Westen die sozialistische und anarchistische Proletarierintelligenz repräsentiert, zu deren Beispiel aber – mit gänzlich anderem Inhalt – auch die berühmte Bibelfestigkeit der holländischen Bauern noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im 17. Jahrhundert diejenige der kleinbürgerlichen Puritaner Englands, ebenso aber diejenige der religiös interessierten Handwerksgesellen aller Zeiten und Völker, vor allem und wiederum in ganz klassischer Art die jüdischen Frommen (Pharisäer, Chassidäer, und die Masse der frommen, täglich im Gesetz lesenden Juden überhaupt) gehören. Soweit es sich hier um »Paria«-Intellektualismus handelt, – wie bei allen proletaroiden Kleinpfründnern, den russischen Bauern, den mehr oder minder »fahrenden« Leuten, – beruht dessen Intensität darauf, daß die außerhalb oder am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehenden Schichten gewissermaßen auf dem archimedischen Punkt gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen, sowohl was die äußere Ordnung wie was die üblichen Meinungen angeht, stehen. Sie sind daher einer durch jene Konventionen nicht gebundenen originären Stellungnahme zum »Sinn« des Kosmos und eines starken, durch materielle Rücksicht nicht gehemmten, ethischen und religiösen Pathos fähig. Soweit sie den Mittelklassen angehören, wie die religiös autodidaktischen Kleinbürgerschichten, pflegt ihr religiöses Bedürfnis entweder eine ethisch–rigoristische oder okkultistische Wendung zu nehmen. Der Handwerksburschenintellektualismus steht in der Mitte zwischen beiden und hat seine Bedeutung in der Qualifikation des wandernden Handwerksburschen zur Mission.
In Ostasien und Indien fehlt der Paria-, ebenso wie der Kleinbürgerintellektualismus, soviel bekannt, fast gänzlich, weil das Gemeingefühl des Stadtbürgertums, welches für den zweiten, und die Emanzipation von der Magie, welche für beide Voraussetzung ist, fehlt. Ihre Gâthâs nehmen sich selbst die auf dem Boden niederer Kasten entstandenen Formen der Religiosität ganz überwiegend von den Brahmanen. Einen selbständigen, inoffiziellen Intellektualismus gegenüber der konfuzianischen Bildung gibt es in China nicht. Der Konfuzianismus also ist die Ethik des »vornehmen Menschen«, des »Gentleman« (wie schon Dvorak mit Recht übersetzt). Er ist ganz ausgesprochenermaßen eine Standesethik, richtiger: ein System von Anstandsregeln einer vornehmen literarisch gebildeten Schicht. Ähnlich steht es im alten Orient und in Ägypten, soviel bekannt; der dortige Schreiberintellektualismus gehört, soweit er zu ethisch-religiösen Reflexionen geführt hat, durchaus dem Typus des, unter Umständen apolitischen, stets aber vornehmen und antibanausischen Intellektualismus an. Anders in Israel. Der Verfasser des Hiob setzt als Träger des religiösen Intellektualismus auch die vornehmen Geschlechter voraus. Die Spruchweisheit, und was ihr nahe steht, zeigt ihren von der Internationalisierung und gegenseitigen Berührung der höheren apolitischen Bildungsschichten, wie sie nach Alexander im Orient eintrat, stark geprägten Charakter schon in der Form: die Sprüche geben sich teilweise direkt als Produkte eines nichtjüdischen Königs, und überhaupt hat ja alle mit »Salomo« abgestempelte Literatur irgend etwas von einem internationalen Kulturcharakter. Wenn der Siracide gerade die Weisheit der Väter gegenüber der Hellenisierung betonen möchte, so beweist eben dies das Bestehen jener Tendenz. Und, wie Bousset mit Recht hervorhebt, der »Schriftgelehrte« jener Zeit ist dem Sirachbuch nach der weitgereiste Gentleman und Kulturmensch, es geht – wie auch Meinhold betont – ein ausgesprochen antibanausischer Zug, ganz nach Hellenenart, durch das Buch: wie kann der Bauer, der Schmied, der Töpfer die »Weisheit« haben, die nur Muße zum Nachdenken und zur Hingabe an das Studium zu erschließen vermag? Wenn Ezra als »erster Schriftgelehrter« bezeichnet wird, so ist doch einerseits die einflußreiche Stellung der um die Propheten sich scharenden, rein religiös interessierten Menschen, Ideologen, ohne welche die Oktroyierung des Deuteronomium nicht hätte gelingen können, weit älter, andererseits aber die überragende, dem Muftî des Islâm praktisch fast gleichkommende Stellung der Schriftgelehrten, das heißt aber zunächst: der hebräisch verstehenden Ausleger der göttlichen Gebote, doch wesentlich jünger als die Stellung dieses vom Perserkönig bevollmächtigten offiziellen Schöpfers der Theokratie. Der soziale Rang der Schriftgelehrten hat nun aber Veränderungen erfahren. In der Zeit des Makkabäerreiches ist Frömmigkeit – im Grunde eine recht nüchterne Lebensweisheit, etwa wie die Xenophilie – und »Bildung« identisch, diese (musar, pa.de.a) ist der Weg zur Tugend, die in demselben Sinn als lehrbar gilt wie bei den Hellenen. Allerdings fühlt sich der fromme Intellektuelle schon der damaligen Zeit ganz ebenso wie die meisten Psalmisten im scharfen Gegensatz gegen die Reichen und Hochmütigen, bei denen Gesetzestreue selten ist. Aber sie selbst sind eine mit diesen sozial gleichstehende Klasse. Dagegen produzierten die Schriftgelehrtenschulen der herodianischen Zeit mit zunehmender innerer Bedrücktheit und Spannung durch die offensichtliche Unabwendbarkeit der Fremdherrschaft eine proletaroide Schicht von Gesetzesinterpreten, welche als seelsorgerische Berater, Prediger und Lehrer in den Synagogen – auch im Sanhédrîn saßen Vertreter – die Volksfrömmigkeit der engen gesetzestreuen Gemeindejuden (Chaberîm) im Sinne der Peruschîm (Pharisaíoi) prägten; diese Art des Betriebs geht dann in das Gemeindebeamtentum des Rabbinats der talmudischen Zeit über. Im Gegensatz zu [jenen frommen Intellektuellen] ist durch [die Schriftgelehrtenschulen] eine ungeheure Verbreitung des kleinbürgerlichen und des Pariaintellektualismus erfolgt, wie sie in keinem andern Volk ihresgleichen findet: die Verbreitung der Schreibkunst ebenso wie die systematische Erziehung im kasuistischen Denken durch eine Art »allgemeiner Volksschulen« galt schon Philo für das Spezifikum der Juden. Der Einfluß dieser Schicht erst ist es, der beim jüdischen Stadtbürgertum die Prophetentätigkeit durch den Kult der Gesetzestreue und des buchreligiösen Gesetzesstudiums ersetzt hat.