Deutsche Gemütlichkeit
Deutsche Gemütlichkeit, die moderne Spielart der geradezu sprichwörtlich gewordenen deutschen Geduld und speziell die jüngste Stufe der alten Wendung vom deutschen Gemüt, welche selbst erst im Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem neuen, jetzt geläufigen Inhalt erfüllt wurde, wird von Görres 2, 265 (1814) als Stichwort zeitgenössischer Deutschstümler eigens vermerkt und als neu bezeichnet: „Sie werfen ihre Augen herum nach einem solchen Mischkünstler und Giftmischer, der es verstände, den neuen Jargon zu reden von Volkstum und volkstümlich, von Gemütlichkeit und der Herrlichkeit Teutschlands, von den Volksrechten und der Frömmigkeit teutscher Nation, und von den raubgierigen Fremden.“
In dieselbe Kerbe schlägt der von Gombert zitierte Saul Ascher, Germanomanie (1815) S. 26: „So geschah es, dass Deutschland, deutsches Volk, deutsche Sitte und deutsche Gemütlichkeit von ihnen als das Höchste und Würdigste aufgestellt ward.“ Die selbstgefällige Wendung gab zu zahlreichen ironischen Äußerungen Anlaß, zumal sie nicht selten als ein bloßer Euphemismus für bequeme Spießbürgerlichkeit und Philisterhaftigkeit empfunden wurde. So schreibt Heine 6, 368 (1843) mit beißendem Hohn: „Jenes Haus war eine Oase, eine sehr oasige Oase deutscher Gemütlichkeit in der Sandwüste der französischen Verstandeswelt.“ Oder ebenda S. 403: „Auch die wohlbekannten Schellenkappen höre ich klingen: deutschen Tiefsinn, deutschen Denkerschmerz, deutsche Gemütlichkeit, deutsche Maikäfer, mitunter sogar ein bisschen deutsche Langeweile finde ich in den Schriften unseres Edgar Quinet.“ Vgl. auch Moritz Hartmanns Reimchronik des Pfaffen Maurizius (1849), wo es in einem Stoßgebet des 5. Kap. heißt:
„Und nimm von uns die Heucheleien,
Die tödlichen Gemütlichkeiten.“
Ferner Büchmann, S. 258 f. und S. 631, wo das von David Hansemann (1847) herrührende geflügelte Wort: „In Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf“ gebucht wird.
Vornehmlich den Süddeutschen und Österreichern wird die deutsche Gemütlichkeit zugeschrieben. Als das wahre Eldorado aber wird Sachsen gerühmt und bespöttelt. Schon in den Grenzboten 1847, 2. Sem. 3, 564 wird die sächsische Gemütlichkeit ausdrücklich der ätzenden Kritik der Berliner entgegen gesetzt.