Doktrinär
Doktrinär, ein in Frankreich während der Restauration etwa 1816 ausgekommenes Schlagwort für die von Royer-Collard geführte Kammerfraktion, um ihre Richtung als Gelehrten- oder Theorienpolitik zu verhöhnen. Nach Littre 1, 1205 und Büchmann S. 576 hängte die in Brüssel erscheinende Satirische Zeitung „Nain jaune réfugié“ zuerst diesen Spottnamen dem französischen Parteihaupt an. Der berühmteste und geradezu typische Träger dieser Bezeichnung wurde aber Guizot. Seit dessen erneuter politischer Wirksamkeit, also von 1830 ab, bürgerte sich das Schlagwort zusehends im Deutschen ein und erlangte allgemeine Verbreitung.
Vgl. zunächst Gutzkow 12, 342, der mit Beziehung auf die Zeit der Restauration schreibt: „Von diesem Augenblick an trat Guizot in die politische Laufbahn, gab seine Stelle auf, als die Burbonen ihre Intrigen gegen die Sache des Volkes einleiteten, und erörterte in einer Menge von Flugschriften die Fragen der Zeit in jenem Sinne, den man damals spottweise den doktrinären nannte. Daher der Name des Doktrinärs.“ Friedrich Schlegel nennt schon in der Concordia (1823) S. 356 Görres „den umfassenden und geistvollsten unter den deutschen Doktrinairs“.
Heine berichtet 5, 27 (unter dem 28. Dez. 1831): „Guizot, ein fast deutscher Pedant, hat, als er Konrektor von Frankreich war, auf solchen Plakaten auch all sein philosophisch-historisches Wissen auskramen wollen, und man versichert, dass eben weil die Volkshaufen mit dieser Lektüre nicht so leicht fertig werden konnten und sich daher an den Straßenecken um so drängender vermehrten, sei die Erneute so bedenklich geworden, dass der arme Doktrinär, ein Opfer seiner eigenen Gelehrsamkeit, sein Amt niederlegen musste.“ Siehe ferner Börne 11, 62 (am 12. Nov. 1832) „Schuldoktrinairs“, 72 ff. usw.
Ebenso Laube, Das neue Jahrh. 2, 108 (1833), der vom „kühlen Herzschlage des Doktrinairs“ und 261 vom „Doktrinärismus“ spricht. Einen besonderen Artikel über das Schlagwort Doktrinärismus bringen die Grenzb. 1891, 2. Viertelj. S.64 ff., worin es u. a. heißt: „Das Wort Doktrinarismus gehört zu denen, die in unsrer Zeit gewöhnlich einen üblen Klang haben, ein Doktrinär heißt etwa so viel wie ein Mann, dem die Urteilsfähigkeit abgeht der durch langes und einseitiges Studium über den Begriffen die Dinge vergessen hat. — Etymologisch wäre der Doktrinarismus etwa zu erklären als die Neigung zu einer Ein- und Unterordnung des Einzelnen in den Zusammenhang eines allgemeinen Systems, wie sie eben bei der Anordnung eines gegebenen Stoffes zu einem wissenschaftlichen Lehrgebäude (doctrina) stattfindet.“ Vgl. auch Sanders, Fremdw. 1, 286.