Aufmerksamkeit ist Arbeitsleistung
Am wichtigsten erscheint mir der Nachweis, daß überall, wo die Umgangssprache oder die Wissenschaft von Aufmerksamkeit redet, Arbeit geleistet, und darum eine Anstrengung empfunden wird. Die Selbstbeobachtung, die leider wieder nicht ohne diese Arbeit der Aufmerksamkeit möglich ist, weist uns darauf hin; Experimente von Duchenne haben wenigstens so viel hinzugefügt, daß durch elektrische Reizung des Stirnmuskels die Physiognomie eines Menschen so verändert wird, daß der äußere Eindruck der Aufmerksamkeit entsteht.
In sprachlicher Beziehung können wir nun, was unserem Hasse gegen die Abstraktionen auf -keit und -heit nur schmeicheln kann, sofort die Personifikation Aufmerksamkeit aufgeben und uns mit der Tätigkeit des Aufmerkens begnügen. Schon die Umgangssprache macht einen Unterschied zwischen. sehen und betrachten, zwischen hören und lauschen, zwischen riechen und wittern, schmecken und kosten, fühlen und tasten. Der Unterschied ist bei den einzelnen Sinnen und in den verschiedenen Sprachen und Mundarten nicht immer gleich groß; immer aber liegt eine Unterscheidung zwischen unaufmerksamem, mehr passivem Wahrnehmen und aufmerksamem, anstrengendem Wahrnehmen zu Grunde. Die meisten Untersuchungen über die Aufmerksamkeit sind auf das aufmerksame, anstrengende Denken, auf die Kombination von Sinneswahrnehmungen verwandt worden; doch machen es die angeführten Wortunterschiede offenbar, daß die Empfindung der geistigen Arbeit, also die Empfindung der Aufmerksamkeit, auch schon bei den einfachsten Wahrnehmungen vorhanden ist. Auch beim Betrachten eines farbigen Lichtpunktes, beim Belauschen eines einzigen musikalischen Tones kann die Arbeit des Aufmerkens binnen kurzem einen hohen Grad von Ermüdung zur Folge haben. Diese Ermüdung kann sowohl durch die Intensität wie durch die Dauer des Aufmerkens veranlaßt werden, sowie die Ermüdung der Armmuskeln durch das Gewicht des emporgehaltenen Körpers ebensogut wie durch die Dauer des Emporhaltens erzeugt werden kann. Arbeit wird da und dort geleistet. Ribot möchte den Zustand der Aufmerksamkeit von dem normalen Seelenzustand durch den Begriff Monoideismus unterscheiden; und er legt Wert darauf, daß der Monoideismus der Aufmerksamkeit geistiger Art sei, daß die einzige Idee sich auf einen Gegenstand der Wirklichkeitswelt richte, daß also derjenige Zustand nicht mit der Aufmerksamkeit zu verwechseln sei, wo ein heftiger Zahnschmerz oder eine außerordentliche Freude ebenfalls das gesamte Bewußtsein auf ein einziges Gefühl zusammendränge. Ich sehe nicht ein, warum man diese Zustände nicht unter dem Begriff der Aufmerksamkeit begreifen soll. Es ist bekannt, daß man Schmerzen "vergessen" kann, wenn es einem gelingt, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten; Reid kannte einen Menschen, der seine Gichtschmerzen linderte, wenn er während eines Anfalls mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit Schach spielte. Nur wer heimlich in der Aufmerksamkeit ein personifiziertes Seelenvermögen erblickt, kann das aufmerksame Schachspielen einer anderen Seeleneigenschaft zuschreiben als das Aufmerken auf seine Schmerzen. Wir können diese Ablenkung unserer Geistestätigkeit von einer unangenehmen zu einer angenehmen Empfindung viel besser erklären, wenn wir die Hypothese aufstellen, daß eine Anstrengung in einer bestimmten Richtung das Gehirnleben für andere Richtungen gewissermaßen hypnotisiert. Diese Erscheinungen einer willkürlichen Ablenkung der Aufmerksamkeit enthalten doch gerade die beiden Zustände des passiven und des aktiven Aufmerkens im höchsten Grade. Es werden uns aus der Zeit der Christenverfolgungen, der Inquisition, aber auch aus dem Seelenleben indischer Fanatiker glaubhafte Fälle erzählt, wo die furchtbarsten körperlichen Foltern ohne Schmerzempfindung ertragen wurden, weil der Gefolterte seine ganze Aufmerksamkeit auf irgend ein starkes Gefühl religiöser Lust richtete. Hier scheint mir also der äußerste Grad derjenigen passiven Aufmerksamkeit vorzuliegen, in welchem bei gewöhnlichen Menschen die Todesqualen alles übrige Seelenleben so lahm legen, daß der Gefolterte nichts anderes mehr sieht, hört und denkt, während beim Märtyrer wie bei Wahnsinnigen etwas wie eine fixe Idee im stände ist, den gemarterten Körper gegen die Schmerzen zu hypnotisieren.