Aufmerksamkeit und Logik
Es bleibt noch übrig, an einigen Beispielen zu zeigen, welche Wirkung die Aufmerksamkeit dort ausübt, wo wir ihr nach alten Schulbegriffen gar keine Rechte einräumen, in der Logik nämlich. Hier spielt sie aber eine entscheidende Rolle; wie wir ohne die Fähigkeit aufzumerken, nicht als Menschen sehen und hören können, so besorgt auch die Aufmerksamkeit das, was wir nachher unser logisches Denken nennen.
Ich setze dabei voraus, daß später zugestanden werden wird, jedes Urteil sei nur eine Tautologie. Der Anerkenntnis dieser Grundwahrheit steht uns nur unser Gefühl entgegen, daß tautologische Sätze in Ewigkeit nicht weiter führen könnten; wir haben aber sehr häufig die Überzeugung, durch Aneinanderreihung von Sätzen im Denken weiter zu kommen. Es ist das derselbe Widerspruch wie der in der Bewertung der Sprache; sie ist unfähig, dem Denkprozesse zu dienen, und doch denken wir in ihr.
In welcher Weise die Aufmerksamkeit da mitspricht, sehen wir am einfachsten und schnellsten, wenn wir diejenige Art von Tautologien betrachten, die wir Schlüsse nennen und uns gleich an das gemeinste Schulbeispiel halten. "Alle Menschen sind sterblich, Peter ist ein Mensch, also ist Peter sterblich." Ich glaube nicht, daß jemals ein Mensch unserer Zeit zu der Vermutung, Peter sei sterblich, durch einen solchen Schluß gelangt ist. Für unsere Weltanschauung haben wir da drei Tautologien; die beiden Prämissen sind Tautologien und der Schluß ist erst recht eine Tautologie. Unablösbar ist von unserer Vorstellung "Menschen" die Gewißheit, daß alle sterben werden, unablösbar von der Vorstellung Peter, daß er ein Mensch sei, unablösbar von der Vorstellung Peter, daß er sterblich sei. Unablösbar natürlich nur für den Zustand der Aufmerksamkeit. Solange unsere Aufmerksamkeit nicht auf den Tod gelenkt ist, solange leben wir dahin wie andere Tiere und denken nicht daran, daß Peter oder Paul oder wir selbst sterben müssen. Wird aber Peter krank, oder wird er achtzig Jahre alt, oder hoffen wir, ihn zu beerben, oder fürchten wir von seinem Tode einen Verlust für uns, einen Verlust für unser Volk, so vollzieht sich blitzschnell die Arbeit der Aufmerksamkeit; und vor unserem Bewußtsein steht die Überzeugung, daß Peter sterblich sei. Niemand, wie gesagt, braucht dazu eine Schlußfolgerung. Peter, Menschen und sterblich sind in unserem Bewußtsein wie drei Seiten eines Dreiecks. Wir können aus praktischen Gründen oder zum Spiele bald die eine, bald die andere Seite in den Blickpunkt unserer Aufmerksamkeit bringen, aber das Verhältnis der drei Seiten in unserem Bewußtsein ist unbeweglich. Nicht die Begriffe bewegen sich, wenn wir schließen; wir bewegen unsere Aufmerksamkeit über die Begriffe hin. So bewegt sich auch die Statue nicht, wenn wir um sie herum gehen und sie von allen Seiten betrachten.
Nicht wir vollziehen einen Schluß, wenn wir auf Peters Sterblichkeit aufmerksam werden; der Schluß, ein Induktivschluß natürlich, ist von unseren Urahnen vollzogen worden, als sie auf das Sterben der Menschen aufmerksam wurden, vielleicht Hunderttausende von Jahren sich über den Tod wunderten, dann immer noch die Ausnahmslosigkeit bezweifelten (Ahasver, Elias) und endlich den Begriff der Sterblichkeit als Erinnerung an unzählige Beobachtungen des Menschengeschlechts in das Gedächtnis des Menschengeschlechts oder die Sprache aufnahmen. Die Tiere besaßen nur nicht die Aufmerksamkeit oder das Interesse, auf den Tod ihrer Mittiere zu achten; so konnten sie sich den Begriff der allgemeinen Sterblichkeit nicht bilden. Hätten sie diesen Begriff, so würde ihre Aufmerksamkeit wohl hinreichen, das Allgemeine im Besonderen zu bemerken. An jedem Tag vollzieht nach dem lateinischen Sprichworte der Esel den Induktionsschluß, sich nicht zweimal an dem gleichen Stein zu stoßen. Der Begriff der Sterblichkeit war anfangs eine geniale Hypothese der Menschen, bis er eine sehr banale und überaus wahrscheinliche Hypothese geworden ist. Jede Begriffsbildung muß mit einer solchen Hypothese anfangen. Die Tiere aber haben keine Neigung zur Hypothesenbildung.
In den Urteilen und Definitionen, in welche wir unsere Begriffe beim sogenannten Schließen zerfasern, liegt die Tautologie noch offener zu Tage. "Kochsalz ist Chlornatrium." Das ist die reine Tautologie gerade vom Standpunkte der Logik. Man kann den Satz ohne weiteres umkehren wie die Formel a = a. Es ist aber nicht wahr, daß man den Satz "Kochsalz ist Chlornatrium" umkehren kann, ohne seinen Sinn zu verändern, nicht wahr, daß die logische Formel auf die lebendige Sprache paßt. Je nachdem die Aufmerksamkeit auf das gemeinsprachliche Kochsalz oder auf den technischen Ausdruck Chlornatrium gelenkt wird, ist der Sinn ein anderer und verliert der Satz seinen tautologischen Charakter. Es macht auch einen Unterschied, ob der Redende die eigene Aufmerksamkeit auf eines der Urteilsglieder lenkt oder etwa die Aufmerksamkeit eines Schülers. Auch bei diesen wissenschaftlichen Urteilen oder Definitionen handelt es sich wie bei der Begriffsbildung überhaupt, gewissermaßen um Hypothesen oder doch um die Vorläufigkeit der Definition. Was die Chemie sich bei dem Satze "Kochsalz ist Chlornatrium" vorstellt, das ist für die gegenwärtige Sachkenntnis wohl richtig; die Definition wird aber in künftigen Jahrhunderten gewiß ebenso schief erscheinen, wie uns die Definition der Kalke aus der phlogistischen Zeit, die damals vorläufig richtig war. Das ist der letzte Grund, weshalb es Realdefinitionen nicht gibt, sondern nur Nominaldefinitionen. Im Wesen nun der Worterklärungen scheint es mir zu liegen, daß sie Tautologien sind; rechts und links von dem Gleichheitsstriche oder der Kopula "ist" stehen die gleichgesetzten Glieder, und unsere Aufmerksamkeit macht so empfindlich, daß durch ihr bloßes Hinblicken das rechte oder das linke Glied sich verwandelt. Es ist, als ob unsere Aufmerksamkeit bald die rechte, bald die linke Schale einer gleichstehenden Wage anblicken wollte, und dieses Anblicken allein bald die rechte, bald die linke Schale zum Sinken brächte. Unsere ganze Weltanschauung ist in solchenTautologien niedergelegt, in gleichstehenden Wagschalen, deren Gewichte durch den Grad unserer Aufmerksamkeit vermehrt oder vermindert werden. Hypothese oder vorläufige Definition ist alles, in der Wissenschaft sowohl wie in unseren Werturteilen. Und der sogenannte Fortschritt der Menschheit ist wie bei der Begriffsbildung von "Sterblichkeit" nur darin zu finden, in Werturteilen wie in der Wissenschaft, daß unsere Aufmerksamkeit feinere und feinere Gewichtsunterschiede bemerkt, d. h. erzeugt. Unsere Gesetzbücher haben heute tausend Paragraphen, wo einst zehn Gebote genügten; unsere Lehrbücher sind angeschwollen. Aber wo der Richter, wo der Forscher mit gespannter Aufmerksamkeit hinblickt, da genügen ihm die tausend und abertausend Tautologien nicht. Er legt der Tautologie, die im Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit ist, auf der rechten oder auf der linken Schale ein minimales Gewicht hinzu.