Zerstreutheit
Auch das erwähnte Urteil des Affenabrichters und anderer Lehrer sagt dasselbe. Aufmerksame Schüler und Affen haben Talent. Ich habe dieses Urteil eben erst ein menschliches, verstandesmäßiges genannt wie die Klassifizierung des Tigers unter die bösen Tiere. Und doch glaubt man, gerade diese Aufmerksamkeit bei Affen und anderen Schülern objektiv beobachten und beschreiben zu können. Wie nun aber, wenn mein Einwurf, daß der objektiv zerstreute Schüler subjektiv der aufmerksamere sein könne, wichtiger wäre, als es im ersten Augenblicke schien? Wie wenn Zerstreutheit und Aufmerksamkeit nichts weiter wären als die objektive und die subjektive Seite des gleichen Zustandes?
Sprichwörtlich ist die Zerstreutheit des Gelehrten. Ich habe es selbst mit einem der berühmtesten deutschen Gelehrten erlebt, daß er einmal den Lesesaal der königlichen Bibliothek ohne seinen Hut verließ, daß er ein andermal um Mitternacht beim Nachhausegehen einer fremden Dame den Arm reichte und sie für seine Frau hielt, daß er endlich einmal in einem Gespräche über seine Spezialwissenschaft den Namen dieser Disziplin nicht fand. Gewiß objektive Äußerungen der personifizierten Zerstreutheit. Nun ist es bei diesem Manne und ebenso bei den meisten zerstreuten Gelehrten offensichtlich, daß die gespannteste Aufmerksamkeit auf einen Punkt des Denkens die Nebenerscheinung der Zerstreutheit in anderen Richtungen hervorruft. Von Pascal wird erzählt, daß er eines Nachts, um seine heftigen Zahnschmerzen zu vergessen, das lange ihn schon beschäftigende Problem der Cykloide gelöst habe. Es ist doch klar, daß er dabei aufmerksam war für seine Aufgabe, zerstreut, absichtlich zerstreut für den Zahnschmerz. Auf diesen Gegensatz zwischen der Zerstreutheit aus Aufmerksamkeit und der Zerstreutheit aus Unaufmerksamkeit — wie ich zunächst sagen möchte — ist schon öfter auf merksam gemacht worden, sehr gut von Ribot (S. 115). Der absichtlich paradox gewählte Ausdruck Zerstreutheit aus Aufmerksamkeit ist vom Standpunkt der Umgangssprache unangreifbar. Aufmerksamkeit und Zerstreutheit sind die beiden entgegengesetzten Gottheiten auf -keit und -heit, die eine zieht rechts, die andere links, und wenn die eine einen Teil der Gehirntätigkeit nach rechts gezogen hat, so hat die andere umso leichteres Spiel, den Rest nach links zu ziehen. Wenn nur die Gottheiten auf -keit und -heit irgendwelche Kräfte wären oder hätten und ziehen könnten!
Solche Beobachtungen sind nicht von heute. An einen ähnlichen Zustand, der dem Sokrates nacherzählt wurde, brauche ich nur zu erinnern. Aber auch in einer indischen Parabel finde ich einen prächtigen Fall von Zerstreutheit aus Aufmerksamkeit. Im "Ozean der Flüsse der Sagen" erzählt Somadeva (ich berichte nach Müller, Religionsgeschichte S. 228) von einem Jüngling, der vorn Könige zum Tode verurteilt wird, weil er die Lehre Buddhas geschmäht hat. Zum Tode verurteilt, damit er Todesangst und so die Marter der Kreatur kennen lerne, Mitleid mit den Tieren lerne. Nachher soll er ebenso drastisch Freiheit des Geistes studieren. Neben dem Scharfrichter soll er durch das Gewühl des Jahrmarkts gehen, ein randvolles Gefäß mit öl in Händen, und bei Todesstrafe keinen Tropfen vergießen. "Hast du auf deinem Wege jemand gesehen?" fragte später der König. "Ich habe nichts gesehen und nichts gehört," lautet die Antwort. Die Moral dieser indischen Geschichte: "also seine Gedanken immer nur auf das Höchste zu richten," hat mit unserer psychologischen Frage nichts mehr zu tun.
Wir kommen dem wirklichen Vorgange gewiß Daher, wenn wir die beiden Arten von Zerstreutheit nach dem Grade des Interesses unterscheiden. Der talentlose Affe oder Schüler ist unaufmerksam oder zerstreut, weil er an der Schule kein Interesse nimmt, der Gelehrte ist zerstreut, weil er ein lebhaftes Interesse an einem bestimmten Schulobjekte nimmt. Es gibt also eine Zerstreutheit aus Interesse und eine Zerstreutheit aus Interesselosigkeit. Und wenn der berühmte Gelehrte, dessen ich gedachte — es war Mommsen — ein andermal deutlich zu beobachten war, wie er Zerstreutheit spielte, um eines für ihn langweiligen Gesprächs enthoben zu sein, so war er in der Hauptsache ehrlich: er gab seine Interesselosigkeit für den Gegenstand des Gesprächs zu erkennen; er war also, abgesehen von dem Gegenstande seines lebhaften Interesses, wirklich so unaufmerksam wie der talentlose Affe.
Die subjektive Empfindung ist also in manchen Fällen nicht entscheidend für die Frage, ob ein Zustand Aufmerksamkeit oder Zerstreutheit genannt werden kann. Der talentlose Schüler, d. h. der Schüler, der nicht nur nach der Meinung seines Lehrers talentlos ist, hat das Gefühl der müssigen Interesselosigkeit; das angeblich zerstreute Genie kann, während es der Umgebung bis zum Blödsinn interesselos erscheint, die innere Arbeit des angespanntesten Interesses empfinden; der geistreiche Gelehrte endlich, der Zerstreutheit heuchelt, um seine Geisteskraft für die nächste Stunde beisammen zu behalten, hat das Gefühl einer gewissen Anstrengung, die ihn die Ablehnung minderwertiger Gesprächsanregungen kostet. Doch wenn auch aus diesem Grunde die Einteilung in subjektive und objektive Aufmerksamkeit nicht gefährlich wäre, so dürften wir sie doch nicht anwenden, weil damit unsere ganze Untersuchung ins Wasser fiele. Unsere Frage lautet ja: was mag dieses subjektive Gefühl der Aufmerksamkeit in Wirklichkeit, objektiv sein? Liegt der Empfindung von Arbeit, als welche wir unsere Aufmerksamkeit immer deutlicher kennen gelernt haben, wirklich geleistete Arbeit zu Grunde, so ist diese objektive Arbeit nicht mehr oder vielmehr noch nicht Aufmerksamkeit. Noch nicht in der Wirklichkeitswelt, nicht mehr im Sprachbewußtsein.