Hering
Seit Hering ist man darüber einig geworden, das Gedächtnis eine "Funktion der organisierten Materie" zu nennen. Bis auf den Umstand, daß niemand weiß, was Materie ist, niemand, was ein Organismus ist, und daß Funktion nichts weiter besagt als die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen; bis auf den Umstand also, daß er durchaus nichts besagt, ist dieser Ausdruck recht glücklich gewählt. Denn anstatt etwas Unerklärliches erklären zu wollen, stellt er nur eine Aufgabe und beschränkt sie vorsichtig auf die Welt der Wirklichkeit.
Ich habe mit den respektlosen Worten natürlich nicht die sehr dankenswerte Leistung Herings treffen wollen, sondern nur die Sprache der Psychologie, deren er sich bediente und bedienen mußte, so lange er der Sprache überhaupt nicht kritisch gegenüber stehen konnte. Sein Verdienst um den Gedächtnisbegriff bleibt bestehen. Der Ausdruck Herings ließe sich sprachkritisch und also ohne die gelehrte Maske der Mechanik besser so fassen: Mit Gedächtnis bezeichnen wir Veränderungen, die von dem Zustande belebter Körper abhängig sind. Wobei es fraglich bleibt, ob die unbelebten Körper nicht ein noch treueres Gedächtnis haben, ob man die Inschriften, die ein Pyramidenstein durch Jahrtausende kraft der Trägheit bewahrt hat, nicht ebensogut Gedächtnis nennen kann, wie die ebensolang unvergessene Fähigkeit des Weizenkorns im Pyramidengrabe, sich zu einem Weizenhalm herauszunähren. Denn daß das Gedächtnis vom Bewußtsein des Gedächtnisses unabhängig sei, darüber ist kein Streit mehr. Und eben erst habe ich das Wort Funktion in der Heringschen Formel durch die Mehrzahl "Veränderungen" wiederzugeben suchen müssen, weil mit dem Worte Gedächtnis, wenn man es in der Einwahl gebraucht, unabweislich die Vorstellung von einer Kraft, einem Vermögen oder sonst einem unwirklichen Zugtier, das den einzelnen Erinnerungen vorgespannt wäre, verbunden ist. Es ist das Verdienst von Ribot, diese Mehrzahl eingeführt zu haben; und auch das ist richtig. daß die Vorstellung von zahlreichen Gedächtnissen dein albernen Streit um den Sitz des Gedächtnisses ein Ende machen muß. Schon nach Bain nimmt der wiederholte Eindruck in der Nervenmasse dieselbe Stelle ein wie der erste Eindruck. Ebenso wie eine halbwegs anständige Theologie sich unter uns pantheistisch gebärden muß, so muß jede halbwegs moderne Psychologie Panpsychismus sein. Nur daß freilich die Psyche eben durch diesen letzten Rettungsversuch ebensowenig wieder belebt werden kann, wie der alte Gott.