Unbewußtes Gedächtnis
Ribot (Das Gedächtnis und seine Störungen u. s. w.) weist darauf hm, daß die Erscheinungen der Gedächtnisse zu ihrer Erklärung außer den Modifikationen einzelner Nerventeilchen auch noch die bleibende Verbindung mehrerer Elemente oder doch die Neigung zu bestimmten Verbindungen, also eben Gleise, voraussetzen. Beschränkt man die Ursache einer Erinnerung auf ein einziges Element, weil die Erinnerung auch als eine Einheit erscheint, so ist das wieder nur eine Wirkung des Fetischismus, der unsere ganze Sprache beherrscht. Das tätige Gedächtnis eines erwachsenen Menschen ist also nur der sprachliche Ausdruck für eine Anzahl von Gleisen, auf welche wir schließen müssen, welche also selbst wieder nur Worte sind, und deren Unterlage noch kein Mikroskop gezeigt hat. Da wir gewohnt sind, nur einen Teil unserer Gedächtnisse, nämlich die in unserem sogenannten Bewußtsein, unser Denken oder unsere Seele zu nennen, und da nicht nur die Sprache (die hier Richter und Partei zugleich ist) zwischen unbewußtem und bewußtem Gedächtnis einen Unterschied macht, so dürfen wir uns mit dem Unterschied beschäftigen, ohne in den Verdacht zu kommen, die Geschäfte der Philosophie des Unbewußten zu besorgen.
Bekanntlich gibt es große Gruppen unbewußter Nerventätigkeit, wie diejenigen, welche unser tierisches Leben (Verdauen, Blutumlauf, Atzung) lenken und die Reflexbewegungen hervorbringen. Es gibt aber kaum eine bewußte Nerventätigkeit, welche nicht durch Übung automatisch werden kann, und kaum eine unbewußte, deren wir uns nicht ausnahmsweise bewußt werden. Bauchgrimmen, Herzbeklemmung und Atemnot sind wohl solche unbewußte Nerventätigkeiten, deren Bewußt werden uns ungewohnt ist und darum wehe tut. In diesem Falle also nennen wir das Bewußtsein eine Krankheit der unbewußten Nervengedächtnisse. Auch Ribot, der doch ganz Hegelisch das Gedächtnis als etwas "an sich'', das Bewußtsein als etwas "für sich" definieren möchte, macht darauf aufmerksam, daß die Gewohnheit und mit ihr die Dauer der psychischen Akte auf den Unterschied einwirkt. Aber er behauptet noch, daß zwischen dem automatischen oder organischen und dem bewußten Gedächtnis eine bedeutende Differenz bestehe. Ich kann das nicht glauben. Allerdings müssen ungeheuer verwickelte Nervenbahnen sich erinnern, wenn wir z. B. ein gesprochenes Wort verstehen oder einen Begriff durch ein Wort bezeichnen wollen, eine ganze Angriffskolonne von Nerven muß z. B. beim Aussprechen eines einzigen Wortes die Muskeln unseres Gesichtes, unserer Zunge, unserer Schlundpartien, unseres Kehlkopfes und unseres Brustkastens (nach einem automatisch gewordenen Plane) in geordnete Tätigkeit setzen. Die Atmung spielt dabei nur die Rolle des Bälgetreters. Betrachten wir aber die Atmung an sich, so ist die Komplikation ihres unbewußten Gedächtnisses nicht kleiner als die beim Sprechen. Man kann vorn Standpunkt der Kunst den Bälgetreter geringer achten als den Komponisten, aber für die Naturwissenschaft ist er doch auch ein Mensch.
Wenn ich scharf aussprechen soll, durch welchen Mangel das Bewußtsein zu einem unbewußten Gedächtnis herabsinkt, so wird mir erst ganz klar, wie falsch die Frage gestellt ist. Das unbewußte Gedächtnis ist uns wissenschaftlich vertrauter, als der scheinbar so wohlbekannte Schein des inneren Bewußtseins. Wir müssen also bei unserer Frage umgekehrt von dem unbewußten Gedächtnis ausgehen. Wir müssen fragen: Durch welchen Vorzug erhebt sich das unbewußte automatische Gedächtnis zum Bewußtsein? Und da hat denn der Bälgetreter recht, ein Menschenrecht, wenn er ärgerlich dazwischen fährt und fragt, wo ich denn eine Schätzung hernehme, um das Bewußtsein über das Unbewußtsein zu stellen.
Und wirklich empfinde ich es als eine unbeweisbare Wahrheit, daß das menschliche Bewußtsein nichts weiter sei als die Hemmung im Uhrwerk des menschlichen Organismus.
Wie wir uns der Tätigkeit der sympathischen Nerven erst durch Störungen, Hemmungen oder Krankheiten bewußt werden, wie wir die Fortbewegung nicht auf der glatten Schiffsbahn und kaum auf Gummirädern, wohl aber sonst auf dem holperigen Pflaster spüren, so meldet sich das unbewußte Gedächtnis immer erst dann bei der höheren Instanz, bei der überlegenden, nachdenklichen, schwankenden, unsicheren, dümmeren, bewußten Hirntätigkeit, wenn die gewohnte Leistung auf ein Hindernis stößt. Wenn wir etwas lernen, wenn wir Gehen, Sprechen, Klavierspielen, Tanzen, Schwimmen u. s. w. lernen, so tun wir nichts anderes, als zu den ererbten Gedächtnissen unseres Organismus ein neues Gedächtnis hinzuerwerben.
Was wir mit so viel Menschenstolz Lernen nennen, das ist also nichts weiter als die furchtbare Bemühung des Menschengeschlechtes, zu seinen ererbten Instinkten neue hinzu zu erwerben, und es wäre ein Triumph des Darwinismus, wenn dereinst die Kinder laufend, plappernd und klavierspielend auf die Welt kämen, wie heute das Hühnchen sofort laufen und picken kann. Unser Lernen ist nichts als die Bemühung, durch das bewußte Gedächtnis hindurch zu instinktmäßiger Tätigkeit zu gelangen. Deshalb tut das Lernen anfangs so weh, deshalb weint das Kind beim Lesenlernen wie bei Bauchgrimmen und Atemnot, und liest nachher ganz gedankenlos, wie es unbewußt verdaut und atmet. Solange die Hand nicht ohne Bewußtsein den Dreiklang auf dem Klavier greifen lernt, solange ist es eine Anstrengung; nachher spielt das unbewußte Gedächtnis allein ganze Stücke, wie denn die Medizin Fälle bezeugt, in denen Musiker im Orchester während epileptischer Anfälle (also ganz ohne Bewußtsein) im Takte weiterspielten. Die Wertschätzung muß also wirklich umgekehrt werden. Nur was wir nicht können, das leitet tastend und tappend, wie ein Anfänger in der Seiltänzerei, das Bewußtsein. Alles, was wir können, vollzieht das unbewußte Gedächtnis.
Nun wissen wir aber endlich, was es mit der Heringschen Formel auf sich hat. Das Gedächtnis soll eine Funktion, das heißt eine abhängige Veränderliche der organisierten Materie sein. Ja, wenn der Organismus nach alter Anschauung ein Staat wäre, etwa unter der Regierung eines Bewußtseins oder einer Seele, dann könnte man sich unter dem Gedächtnis als einer Funktion etwas denken; dann wäre das Gedächtnis die Leistung der amtlichen Zeitungsschreiber, wie denn die offiziösen Journalisten streng wissenschaftlich als die Funktionen der Regierung, das heißt als ihre abhängigen Veränderlichen bezeichnet werden können. Sind aber die Gedächtnisse nur automatische Geleise der Nervenbahnen, dann kennen wir die unabhängige Veränderliche ebensowenig wie das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihr und den Gedächtnissen, und die Heringsche Formel erweist sich als eine pedantische Nachahmung des geschmacklosen Witzes: "Das Denken sei eine Sekretion des Gehirns, wie der Harn eine Sekretion der Nieren sei." Man muß ein beschränkter Materialist sein, um sich bei dieser Gleichstellung einer Ware und eines Abfallstoffes etwas denken zu können. Die Heringsche Formel ist — wie gesagt — nützlich und fruchtbar; aber sie ist erkenntnis-theoretisch nicht einmal witzig, kann weiter nichts sagen als: "Wenn wir könnten, möchten wir das Gedächtnis gern mechanisch erklären." Daß wir es nicht erklären können, daß wir unser Nichtwissen so klar als möglich einge-stehen, das trennt uns eben von dem Materialismus.