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Semon

In einem Aufsatze über "Zweck und Organismus" (Nord und Süd, Heft 326) habe ich eine weite Ausdehnung des Gedächtnisbegriffs versucht. Meine Kritik des Zweckbegriffs möchte ich nach Erscheinen von Paulys "Darwinisnius und Lamarckismus" revidieren; daß ich aber den Kristall zu den Organismen gerechnet habe, daß der Kristall zum mindesten das besitze, was man nicht anders als Gedächtnis für seine Form nennen kann, das halte ich aufrecht. Inzwischen hat (1904) Richard Semon ein lesenswertes Buch veröffentlicht: "Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens". Semon hat Herings Formel noch einmal ausgesprochen, erweitert und durch reichliche Beispiele aus allen organischen Welten verständlicher gemacht. Die metaphorische Erweiterung des Gedächtnisbegriffs drückt er (S. 21) sehr gut so aus, daß das Gedächtnis nicht zu einem Monopol des Nervensystems geworden sei; andere Gewebsysteme sind (S. 277) für Wachstum und Regenerationsprozesse ebenso wichtig wie das Zentralnervensystem; die Erblichkeit, die der Art sowohl als die der erworbenen Eigenschaften, ist auch ohne experimentellen Beweis aus indirekten Gründen auf ein Gedächtnis der Keimzelle zurückzuführen (S. 162). Semon ist in erkenntnistheoretischer Beziehung frei genug, den Wert seiner eigenen Arbeit nicht zu überschätzen; er weiß, daß er nur eine neue Umschreibung alter Rätsel gibt (S. 339), er behauptet nur: es sei schon ein großer Vorteil, eine ganze Anzahl von Unbekannten wie Gedächtnis in engerem Sinne, Vererbungsfähigkeit, Regulationsvermögen aus den biologischen Problemen auszuschalten und durch die Funktionen einer einzigen Unbekannten zu ersetzen (S. 342). Hätte Semon meine Darstellung des Gedächtnisses gekannt, so hätte er nicht ausdrücklich (S. VI des Vorwortes) vor verwandten Erscheinungen der anorganischen Natur Halt gemacht, so hätte er den motorischen Charakter, der doch dem Gedächtnis in engerem Sinne ebenso eignet wie dem übrigen organischen Leben, seine sekretorischen und plastischen Erscheinungen, — so hätte er, sage ich, das Prinzip der Bewegung stärker betont und hätte die nahe Berührung oder Identität von Gedächtnis und Sprache erkennen müssen.

Aber für Sprache hat Semon wenig übrig, weder für künstlerische Schönheit der Darstellung noch gar für ihren erkenntnistheoretischen Bankerott. Er glaubt allen Ernstes, gut daran zu tun, wenn er Herings metaphorische Begriffserweiterung von "Gedächtnis" verschmäht und sich mit schwerfälligen Fremdworten behilft. Seit mehr als tausend Jahren streitet man über die materielle oder psychische Unterlage der einzelnen Erinnerungsbilder; schon die Scholastiker sprechen da von Dispositionen; noch Descartes von leibhaftigen Bildeichen. Die unverfängliche Bezeichnung "Spuren" ist seit Haller geläufig. Wundt spricht mit gewohnter Wortliebe von "funktionellen Dispositionen"; und erst Jerusalem hat es scharf ausgesprochen, daß wir es da mit unanschaulichen Hilfsbegriffen zu tun haben. Einerlei: Dispositionen, Spuren, Gleise, Erinnerungsbilder geben unserem Denken irgendwelche Dispositionen oder Zeichen. Semon sagt dafür "Engramme" und nimmt dem Fremdworte noch besonders dadurch jeden Wert, daß er ausdrücklich und mit Recht ablehnt, seine Engramme wie die Einritzungen der Phonographplatte mechanisch verstanden zu wissen. Ebenso glaubt er sich zu sichern, wenn er statt Gedächtnis Mneme sagt. Ich will ihn nicht damit schikanieren, daß das griechische Mneme gelegentlich einmal Archiv oder Denkmal heißen konnte. Ich will nicht einmal einwenden, das deutsche Wort sei noch so jung und so wenig starr, daß es sich dem Bedeutungswandel leichter fügen würde als das tote griechische Wort. Im "Deutschen Wörterbuch" ist sehr schön darauf hingewiesen, wie "Gedächtnis" ursprünglich für das innigste Gedenken, für die Andacht verwandt, schließlich am häufigsten, in der Schule für das mechanische Auswendiglernen, für Wortwiederholung gebraucht wird. Hering hatte wie jeder Deutsche das Recht, die Bedeutung des Wortes "Gedächtnis" neuen Erfahrungen zuliebe metaphorisch zu erweitern; das Recht und, für seine Schule, die Kraft. Semon hat die Bedeutung des toten griechischen Wortes zu erweitern nicht das Recht und nicht die Kraft.

Wenn ich nun gar vom "Gedächtnis" immer wieder die Aufmerksamkeit und die Erinnerung des Lesers auf die "Aufmerksamkeit" hinüberlenken möchte, weil beide Begriffe einander unterstützen, so ist mir das durch den Gebrauch des toten Wortes "Mneme" verwehrt.

Uns geht hier das Gedächtnis darum so viel an, weil wir es als die einzige vorstellbare Eigenschaft des sogenannten Bewußtseins kennen lernen werden, und weil die Sprache nichts weiter ist als die Summe unserer mnemotechnischen Zeichen, als die Krücke des Gedächtnisses, richtiger ausgedrückt: als die Hilfszeichen aller Gedächtnisse, die so zahlreich sind, wie die jedem einzelnen zur Verfügung stehenden Worte und anderen Ausdrucksmittel.

Wir nehmen also an, daß alle von der Außenwelt nach unserem Gehirn gehenden Eindrücke und ebenso alle von unserem Gehirn (oder anderen Nerven) nach der Außenwelt (zu der auch unser Leib gehört) gehenden Handlungen oder Wiliensakte in den Nervenbahnen Zeichen zurücklassen, die man bildlich Spuren oder Gleise nennen kann, wobei man Spaßes halber bemerken mag, daß Spur und Gleis dasselbe ist. So gräbt sich fließendes Wasser in langsamer Arbeit selbst sein Bett, und nach Jahrtausenden weiß die Sprache nicht mehr, ob sie mit dem Worte Fluß die zahllosen fließenden Tropfen oder ihr Bett bezeichnen soll. Das Bett ist das Gedächtnis.