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Aufmerksamkeit und Zivilisation

Und wie sehr die unbewußte Personifikation der Aufmerksamkeit an dieser Unklarheit die bchuld tragt, ist aus der weiteren Deduktion von Ribot zu sehen, wenn er den Fortschritt der Zivilisation als eine Entwicklung seiner willkürlichen Aufmerksamkeit, aber wahrhaftig nur als eine Entwicklung des personifizierten Seelenvermögens "Aufmerksamkeit" auffaßt. Er denkt sich gewiß etwas dabei, wenn er (S. 59) sagt: "Der gleiche Fortschritt, welcher in der moralischen Welt das Individuum von der Herrschaft der Instinkte zu der des Interesses und der Pflicht hat übergehen lassen, in der sozialen Welt von der ursprünglichen Wildheit zur Organisation, in der politischen Welt von dem fast schrankenlosen Individualismus zu Regierungseinrichtungen — derselbe Fortschritt hat die Menschen in der intellektuellen Welt übergehen lassen von der Herrschaft der unwillkürlichen Aufmerksamkeit zur Herrschaft der willkürlichen Aufmerksamkeit. Diese ist zugleich Wirkung und Ursache der Zivilisation." Das klingt. Eine Gottheit, die zugleich Wirkung und Ursache der Entwicklung ist. Wir aber wissen mit solchem Gerede nichts anzufangen. Aufmerksamkeit ist die Empfindung einer Anstrengung; da ist von vornherein klar, daß die Entwicklung der Menschheit wohl die Geistesarbeit und die mit ihr verbundene Anstrengung steigern wird, nicht aber zunächst die Empfindung dieser Anstrengung. Ist die Aufmerksamkeit keine Personifikation, kein Seelenvermögen, sondern nur ein Wort für eine Empfindung, so kann die Entwicklung nur darin beruhen, daß die Menschheit sich im Laufe der Zeit zu immer stärkerer Anspannung ihrer Wahrnehmungs- und Denktätigkeit trainiert hat, wie sich einzelne Völker zu immer stärkerer Anspannung ihrer Muskeltätigkeit trainiert haben. Wohl ist es wahr, daß die sogenannten Wilden wie die Kinder von uns unaufmerksam genannt werden; sie sind es aber nur vom Standpunkte unseres Bewußtseinsinhalts. Sie apperzipieren nicht gern, was wir apperzipieren. Im Stande der Wildheit oder der Kindheit muß der bewußte Wille aufgewandt werden zu der Anstrengung des Aufmerkens. Nur die Masse des Bewußtseinsinhalts und die Zahl seiner Kombinationer: wird durch die Zivilisationsentwicklung gesteigert, nicht die individuelle Neigung, aufzumerken, die unwillkürlich beim Kinde und beim Wilden vorhanden ist, sehr groß sogar im Verhältnis zum vorläufigen Bewußtseinsinhalt. Nicht umsonst enthalten die Schulzensuren eine besondere Rubrik für die Aufmerksamkeit; sie ist außerordentlich wichtig für die Beurteilung des Schülers. Aber die Schablone genügt nicht. Manch ein Schüler kann den höchsten Grad der Aufmerksamkeit für seine individuellen Interessen besitzen, z. B. für Käfer oder für das Butterbrot seines Nachbars oder für die Zöpfe eines kleinen Mädchens, der dennoch für die Interessen der Schule unaufmerksam ist. Ein solcher Schüler ist aufmerksam vom psychologischen Standpunkte, unaufmerksam nur vom Standpunkte einer Schulregulative, die ihn doch gar nichts angeht.

Ebenso steht es mit den gelehrigen Affen, welche nach einer Bemerkung Darwins von einem Affenabrichter nach dem Grade der Aufmerksamkeit bezahlt wurden, deren sie fähig waren (Abst. d. M. Recl. I. 110). Das war eine menschliche, eine unnatürliche Klassifikation dieser Affen. Aufmerksam ist auch der Affe, der Flöhe im Felle seiner Kinder sucht; Aufmerksamkeit für die Lehren des Affenabrichters ist eine menschliche Bezeichnung, wie wenn wir einem Tiger Bosheit zuschreiben.