Der Schlager von gestern
»So 'ne ganze kleine Frau,
so 'ne ganze kleine Frau,
so 'ne ganze, ganze, ganze, ganze,
ganze kleine Frau … «
»Wenn die Blätter leise rauschen
in der Laube von Jasmin,
ja, dann laß uns Küsse tauschen … «
– – – – – – – –
Schade, dass das noch niemand gemacht hat: Schlager und Moden von gestern auf die Bühne zu bringen. Sie sind unweigerlich komisch, von einer leisen Lächerlichkeit umweht, nie kommt sich der Mensch so erhaben vor, wie wenn er nur eine Etage tiefer sieht.
Vorgestern ist historisch, und ein Drama darf, wie erwiesen, im Biedermeierkostüm spielen. Der rote Strich im Tränenthermometer liegt ungefähr um 1860 herum, von da ab wird die Sache heikel.
Die Musikabteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin bewahrt mit minuziöser Sorgfalt den kleinen Tageskram auf, den die Notenfabrikanten so auf den Markt werfen, und wer einen stillen Vormittag hübsch verbringen will, der möge einmal mit der gütigen Unterstützung des freundlichen Konservators, des Professors Altmann, die alten Bände durchblättern, die da von Kalisch bis Nelson führen. Kalisch rückt schon langsam zu Glaßbrenner hin, man nimmt ihn ebenso historisch wie die Texte von Halévy, und somit ist alles in Ordnung. Aber Julius Freund vom verflossenen Metropoltheater hat es schon schwerer, so schwer wie alle Schlager von gestern. Warum?
Zunächst, weil der Schlager von gestern abgenutzt und ausgelaugt ist bis auf den letzten Musiktropfen. Kein Kaugummi währt ewig und dieser schon gar nicht. Dann aber noch aus einem ganz anderen Grunde, und der liegt tiefer.
Alle Schlager von gestern wirken auf den heutigen Menschen naiv. Er lächelt, er lächelt überlegen, er sagt sich: »Das ist alles? Das haben nun unsere Eltern als so furchtbar unpassend und frivol empfunden? Zu dieser Musik haben lockere Mädchen, die heute ehrwürdige Matronen sind, getanzt? Das füllte jene Nächte aus? Weiter nichts –?«
Aber diese Überlegung ist ganz und gar unrichtig. Der Schlager bewahrt nämlich nicht, wie man immer sagt, seine ganze Zeit, denn er ist kein großes Kunstwerk, sondern er hat es sich sehr leicht gemacht. Er hat eben die gesamte Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt, er hat dem Hörer augenzwinkernd einen freundschaftlichen Rippenstoß versetzt und hat gesagt: »Du weißt doch, wie ichs meine … « Natürlich wußte der Hörer. Es sind nicht nur die lokalen und zeitlichen Anspielungen, die dahin sind, es ist vor allem jenes unnennbare Etwas, das eine Zeit ausmacht, ihr Rhythmus, ihr Takt, ihre Beziehung zwischen den Geschlechtern, ihr modus procedendi im Geldverdienen, ihr Klatsch, ihre Struktur der Familie, ihre Politik und ihre Klassen. Auf diesem Grund und Boden tanzt der Schlager. Dieser Grund und Boden ist ihm nun entzogen, er steht in der Luft, und nun lächelt der Mensch von heute in falscher Überlegenheit über das Gestern.
Die Leute von gestern aber waren gar nicht naiver oder herztausiger oder sittsamer. Sie waren nur anders, und das, was zwischen den Zeilen und in den Pausen des Schlagers steckt, läßt sich nur sehr schwer und manchmal überhaupt nicht rekonstruieren. Eine alte Grammophonplatte hat mir neulich einen schluchzenden Zigeunerwalzer vorgespielt, und ich habe sehr gut verstanden, was die jaulenden und winselnden Violinen da gewollt haben … Aber so liebt man eben heute nicht mehr. Das Kaleidoskop hat gewechselt, das Wort »Gigerl« hat jede Bedeutung verloren, es gibt wohl noch eitle Männer, aber keine Gigerls, nicht diesen Typus, nicht diesen alten Nachsteiger. Offenbach und Nana und Beardsley und der Cake-walk – die Schlager der Zeiten haben sich gewandelt, und in ihnen war alles, was zweideutig und frech und lasterhaft war – aber anders als heute. Mitunter verlodderter, mitunter simpler – anders. Wir können das nur sehr schwer verstehen. Daher ist ein alter Herr, der nach einem guten Diner in Erinnerungen verloren, leise, damit es die Gattin nicht hört, vor sich hinträllert:
»Zum Tingelingeling schon wieder,
Ihm zittern alle Glieder … « ein wenig lächerlich. Denn wir sind Zeuge jener für ihn großen Zeiten gewesen, wo er es mit den Mädchen hatte. Die Röcke waren damals lang, heute sind sie kurz, eine Wade war ein unerlaubter Hochgenuß, und das Rezept seiner erotischen Saturnalien war eben ein anderes. Und so steckt sich der Neffe Arthur eine Zigarette ins Gesicht, zuckt die Achseln und lacht ein wenig über Onkel Gustav. Bis zum nächsten Neffen …
Der Schlager von gestern ist eine verblichene Fotografie. Das ist »Sie« – und sie ist es doch nicht. Nur er, der sie gekannt hat, erinnert sich gut, das Bild ist ihm ein Hilfsmittel der Erinnerung. Der Fremde sieht eine hochgeschnürte, etwas lächerliche Person. Der Schlager von gestern ist ein verblühter, verdorrter Strauß; man mag so etwas kaum sehen, es wirkt fatal und lächerlich.
Der Schlager von gestern braucht nicht melancholisch zu machen. Er ist für den, der näher zusieht, ein Symptom für das Mysterium der fließenden Zeit.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 18.10.1925.