Naturalismus? Naturalismus!
Eine der traurigsten Sachen, die es auf der Welt gibt, ist ein deutscher Schwank. Da werden Schwiegermütter immer noch zu Hyänen, da werden die »Ehrenhändel« um die junge Tänzerin Lolalita im nahen Stadtwäldchen ausgetragen, da verwechselt immer noch der Bruder den Bruder mit dem Chauffeur seines Großonkels – reden wir nicht mehr davon. Wohl aber von der Schauspielkunst, die sich hierbei offenbart, nein, die sich überall auf deutschen Theatern offenbart, wenn Stücke in der Gegenwart spielen.
In diesen wie in anderen (besseren) Stücken kommen Menschen unserer Zeit vor: Kaufleute, Beamte, kleine Angestellte, Redakteure, Ärzte, Versicherungsagenten und Richter. Und seit rund hundertundsiebzig Jahren werden diese Typen unverändert gespielt, übertrieben, bis zum Platzen mit etwas gefüllt, das die Schauspieler für Komik halten, widersinnig töricht und so, wie sich noch nie ein Kaufmann, Beamter, Angestellter unserer Tage benommen hat. Von der Maske bis zur Sprache, von den Handschuhen bis zum Benehmen in allen Situationen: nichts stimmt. Warum nicht –?
Der naturalistische Schauspieler, soweit er vorhanden ist, sieht nicht. Sei es, dass er, der längst kein grünwagiger Zigeuner mehr, sondern ein Genossenschaftler ist, nicht in alle Schichtendes Volkes eindringt, entweder nur in der seinen oder nur in der feinen oder nur in der kleinen Bescheid weiß –: die primitive Freude, »nachzumachen«, scheint verloren.
Der Schauspieler der alten Schule, jener Generation, die noch in Samtjacke und Kalabreser, blau rasiert und majestätisch, im Havelock umherging, diese Jahrgänge machten wohl abends einmal am Stammtisch etwas vor. Es behagte ihnen, sich zu »verstellen« – plötzlich etwa einen Friseur höhnend nachzuahmen, einen zerstreuten Geschäftsmann, einen cholerischen Postbeamten – und nun, auf schärfster Beobachtung fußend, einen solchen Typus voll auszuspielen. Der Witz an diesen Vorführungen war ihre Lebensechtheit – war nicht ihre Individualität, nicht die Frage, wie der große X. einen Mann im Schlafwagen auffasse – sondern die Tatsache, dass er ihn voll kapiert hatte: den Mann im Schlafwagen, ein für allemal. Die Hörer lachten über das Typische.
Das scheint es kaum noch zu geben. Was dann in Virtuosenkunststücken ohne Wert ausartete, ist fast verschollen. Es gibt einen, der verblüfft immer wieder durch das »stehlende Auge«, wie Wilhelm Busch das einmal genannt hat, das ist Chaplin. Er frisiert aus Langerweile den Kopf eines Bärenfells – und in zehn Sekunden gibt er den ganzen Friseur, seine eilfertigen Bewegungen, die etwas weibische Grazie, das überlegene Gesicht, mit dem der Mann seiner mechanisch gewordenen Beschäftigung zusieht – alles in zehn Sekunden. Die dämonische Nachahmungskraft, die etwa noch in Pallenberg steckt, der Drang, die Menschen zu äffen, ist so selten – und wenn man erzählt, dass sich eben dieser Komiker einmal an den Wegrand als Bettler gesetzt und ihn die eigene Frau nicht erkannt habe, so ist das wahrscheinlich und gehört in dieselbe Kiste. Ebendahin auch seine merkwürdige Fähigkeit, fremde Sprachen zu »sprechen«, ohne auch nur ein richtiges Wort zu kennen – er hat den Tonfall abgelauscht, den Habitus, die Musik – er macht nach.
Wohin ist diese Gabe –? Das wissen die Götter, und wir haben das Nachsehen. Welches Feld –!
Der Bankbeamte morgens im überfüllten Coupé; die vielbeschäftigte Köchin im Restaurant; der Abteilungsleiter vor dem Krach und nach dem Krach; die täglichen Szenen im Büro – eine ganze Welt –! Nichts davon ist auf den Bühnen zu finden. Der junge Mann, der seinem Mädchen abends eine dringliche Bitte vorträgt; der Schöffe, der einer Verhandlung folgt, die er nicht versteht; der Beamte, der einen Steuerzahler monatelang hinhält – aber sie benehmen sich nicht so, wie uns das die Schwankschauspieler dartun: so dumm, so auf hundert Schritt lächerlich, so albern, so kleinstädtisch. Diese Leute sehen alle aus wie Sie und ich, sie sind nicht törichter als wir drei beide – sie haben ihren Vogel wie alle Welt. Nichts davon auf den Bühnen.
Und dabei ist doch diese Typenkomik das einzig wirklich Moderne, das einzig wirklich Tragische, weil ja fast alle Gefühle – von ganz besonderen Menschen und von ganz besonderen Situationen abgesehen – das Sieb der Mechanisierung passiert haben, weil heutzutage fast alles typisch ist, von der Patentwiege bis zum abonnierten Grabe. Wer Augen hat und sie offen hält, kann beinahe sicher voraussehen, wie sich der oder jener bei der Brautwerbung benimmt, auf dem Wohnungsamt, in der Sommerfrische. Es ist schwer, das zu sehen, schwerer, es zu erfassen, und am schwersten, es wiederzugeben. Und weil ja niemand ein so scharfer, witziger und guter Kritiker ist wie der Angehörige einer Schicht eben seiner Schicht gegenüber –: so ist der Humor so begrenzt, so auf Lokalkomik beschränkt, auf Studentenkneipen, auf Bierzeitungen. Und da ist er in Händen von Dilettanten und hat meist mit Kunst nichts zu tun.
Uns fehlt der moderne naturalistische Schauspieler. In Schablone sind sie erstarrt, oder von einem Individualismus besessen, der außerhalb aller Welt liegt. Man kann natürlich auch den Wilhelm Tell als jüngeren Kokainisten spielen – das ist gewiß sehr schön. Aber bei der Figur eines Hauswirts aus der Geißbergstraße des Jahres 1925 muß man Farbe bekennen – das stimmt oder stimmt nicht. Meistens stimmts nicht – und so bleibt besonders für solche Rollen die Provinzschablone aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts übrig. Der Hauswirt sitzt davor, erkennt sich zum Glück nicht und ist höchst zufrieden. Aber wir nicht. Uns fehlt etwas.
Der Expressionismus hat uns nicht getröstet. Ich weiß nicht, wer der Erfinder des schönen Wortes vom »sauren Kitsch« ist, den jener darstelle – aber es kann kein Pflaster auf die Wunde sein, dass jüngere und sonst ehrbare Menschen ihre Glieder in die Stellung festgebackener, ägyptischer Mumien bringen, oder sich emsiglich bemühen, mit Känguruhpfoten alten Wandmalereien zu gleichen. Das bringt uns in der Sache nicht weiter.
Die Sache ist:
Das moderne Leben in den Städten, auf dem Land, auf den Auslandsreisen; der gute Mittelstand, der gedrückte Mittelstand, der gehobene Arbeiter, der Landadel, die Privatsekretärin, der Schüler von heute – sie sind auf der Bühne kaum zu finden. Kein Diener bewegt sich je so, kein kleiner Uhrmacher, kein reicher Student, kein armer Student, kein Zahnarzt, Baumeister, Geometer … So wie es Filmjrafens gibt, so gibt es eine Theaterwelt, die nach Pappe mufft und nach Staub riecht. Schade.
Gebt uns auf dem Theater und im Film den Zerrspiegel unseres Lebens, dieses Lebens, des heutigen Lebens – und wir würden in einem Lachkabinett sitzen, in dem wir nicht immer genau wissen, was für Tränen es sind, die uns da aus den Augen kullern.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 08.10.1925.