Die kleinen Revuen
Die großen pariser Revuen sind so:
Wenn der Vorhang aufgeht, steht da ein Chor Matrosinnen oder Briefträgerinnen oder Chauffeurinnen und singt, was noch nie ein Mensch verstanden hat. Hierauf betritt der zweite Held und die zweite Diva tänzelnd die Szene, Spazierstock und Gebiß weisend, viele Menschen kommen erst jetzt, die Sessel klappen, die Placeusen bekommen ihr Trinkgeld: 75 Centimes vom Franzosen, gar nichts oder viel zuviel vom Fremden, die Bühne wird dunkel, und es erhebt sich die Rampensonne über einer exotischen Szene: südasiatische Giraffen und nordafrikanische Eskimos und Schießbudenindianer – auch Geschichte ist sehr beliebt: wenn unten im Orchester die Tschinellen zischen, dann kann man darauf schwören, dass nunmehr die Opferbecken feierlich vor sich hinqualmen werden und dass der grausame Perserfürst die Lieblingssultanine zum Opfertode bestimmen wird, mit geschminkter Augenbraue. Die Musik wird bewegter, Trick: das lebende Vogelbauer oder der lebende Petersilienstrauß, der Star oder die Starin tritt auf, die Bühne ist vollgepackt mit blühenden Frauenleibern und den herrlichsten Stoffen (Haare apart und Bouletten apart!) – und in einem fröhlichen Schlußgeschrei endet dieses Stück repräsentativer Theaterkunst. Casino de Paris, Folies-Bergère, Concert Mayol, Gott segne euch! Es gibt aber noch anderes.
Das andere sind die kleinen Revuen, und die sind hundertmal amüsanter. Zunächst schon deshalb, weil sie sich alle über die großen lustig machen, weil sich ihre Schauspielerinnen nur zu Privatzwecken ausziehen und weil sie in der Tat witzig sind. Zum Beispiel:
»Les Deux Ânes«. Ich weiß nicht, auf wen diese Anspielung geht: das Theaterchen hat nur einen Direktor, und an Zuschauern sind meist bedeutend mehr als zwei vorhanden. Der Abend beginnt traditionell mit den Chansonniers. Der französische Chansonnier ist das Ideal eines Autors: er spielt nicht, er sagt seins auf. Das macht: er ist meist sein eigener Autor. Diese Leute können gar nicht einmal viel – aber sie schwitzen nicht, sie rackern sich nicht im Humor ab, sie mimen nicht. Sie stehen fast alle still und singen, je frecher, je unbewegter, ihre Liedchen. Die sind mäßig, gut und ausgezeichnet, wie das so geht. Da gibt es ein Gebet an den amerikanischen Präsidenten – Mayol hats neulich schlecht und recht auch gesungen –, das beschwört den harten Gläubiger jenseits des Meeres, Mitleid zu haben (»Ayez pitié de nous, Monsieur Coolidge!«) und strahlt vor Frechheit. Da gibt es viel lokalen Witz – die pariser Chronik ist zur Zeit nicht sehr reich an Figuren – welches Land wäre das! – und die Uhr läuft schnell. Dazu kommt die Eigenheit der Franzosen: bei einer Zweideutigkeit wird nicht gezwinkert. In Berlin ist es mir immer unangenehm, neben einer Dame zu sitzen und mir ein etwas fettes Gericht vorsetzen zu lassen. Hier tritt einer auf, der sieht aus wie eine »gosse« von Poulbot, und singt, dass die Tochter zur Mutter gesagt habe, die Männer wären »deçus«, und die Mutter darauf: »Très bien, ma fille – mais prends toujours une cédille!« (»Das habe ich nicht verstanden, Herr Panter.« – Gnädige Frau, ich erkläre es Ihnen mündlich.) Und traditionell ist der Mann, der sich – wie der selige Fragson – selbst auf dem Klavier begleitet, er singt immer ins Publikum, malt mitunter mit der rechten Hand die Linien der Personen nach und spielt nur mit der linken – und das flitzt nur so von Frechheit. Dann kommt die Revue.
Die kleinen Revuen arbeiten fast ganz ohne Requisiten: ein paar Vorhänge, eine Papplaterne, eine Wachsnase – aber mit Geist. In den »Beiden Eseln« stand ein Herriot unter dem Flimmerlicht eines Scheinwerfers und redete mit Händen und Füßen. Überschrift: »Politische Wochenübersicht Pathé«. Dazu Gesang aus dem Dunkeln: »Ce sont des choses qu'on dit – mais qu'on ne fait pas!« – die gute alte Zeit tritt auf und besingt die Cafés d'antan – ja, wo sind sie wirklich? – der Ton trifft den Nerv der Stadt, alles lehnt sich wohlig in die Sessel zurück und fühlt: zu Hause. Manchmal schlägt ein Liedchen, fast unbewußt, fast ungewollt, fernere Töne an – eines hatte nach jeder Zeile die Worte »on l'oublie« – eine Nuance weiter, und wir sind bei: »Dunkle Zypressen. Die Welt ist gar so lustig – es wird doch alles vergessen«, und dann prickelt wieder irgendeine witzige Szene.
Bei »Fursy et Mauricet« sieht das ähnlich aus. Sie haben da einen ausgezeichneten Chansonnier, nein, zwei, nein, drei. Einer singt: »Wiegenlied«. »Ich könnte es auch Hochzeitsmarsch nennen – aber Wiegenlied ist schöner.« Er singt also ein Schlummerlied – und nach der Feststellung, dass der Kleine in der Wiege den Gesang doch nicht versteht, blökt er ihn an, fortissimo, mit den unglaublichsten Unverschämtheiten auf Gott und die Welt, das Lied hat beinahe den Rhythmus eines Militärmarsches, und der Sänger schreit wie ein Büffel. Schön muß es sein, dabei einzuschlummern … Und die Herren Chefs selbst treten auf: Fursy durchaus von gestern, Mauricet durchaus von heute, witzig, elegant, bis an die Grenze der Möglichkeit unanständig, aber so fix, dass nichts kleben bleibt. Und auch hier eine kleine Revue, nicht so witzdicht wie die andern – aber lustig genug. Der Mann im Tropenanzug als Forscher in einem vollkommen leeren Theater: der Comédie-Française. »Schritte – ha! ein Mensch! Was tun Sie hier. Unglücklicher?« Und jeder Einfall dauert nur drei Minuten, die Liedchen sind so geschliffen, so ein für allemal – wie das bei uns etwa nur Hans Adler kann, ein österreichischer Autor.
Ja, und dann die beste von allen: »Où allons nous?« von Rip, dem König der kleinen Revueautoren, augenblicklich im Théâtre des Capucines. Theaterkritiker, der du dies liest: denke dir, dass du in einem Theater das Gefühl hättest: schade, dass es schon aus ist! Nicht auszudenken, wie? Aber so ist es.
Das ist gespielter Champagner. Ein Ehepaar tritt auf, sagen wir: Herr und Frau Warren. »Nein, was man für Ärger hat! Carmen hatte gestern Ausgang – wo treffen wir sie? Im Folies-Bergère! Ist das ein Aufenthalt für so ein junges Mädchen? Und überhaupt diese Konkurrenz der großen Revuen für unsereinen! Bei uns sind die Mädchen jetzt alle angezogen – unsere Kundschaft wünscht das so!« Und Ronsard tritt auf, der alte französische Dichter, zu dessen Ehren neulich die restlichen Franzosen zu Rittern der Ehrenlegion geschlagen worden sind, er hat einen goldenen Stirnreif, Schnallenschuhe und einen Bauchladen: »Hier noch die roten Bändchen der Legion d'Honneur!« Und eine Dame kommt zur Heiratsvermittlerin, und die legt ihr keine Korrespondenz vor, sondern klatscht in die Hände: »Mam'selle Alice! Die Kollektion!« Und herein kommen die Männchen als Mannequins mit Preisen und allen Qualitäten, und von einem Witwer sagt Madame: »Noir – c'est toujours habillé!« Und sie haben Frauen mit Humor. Bei »Fursy et Mauricet« Fräulein Nina Myral, und bei Rip Fräulein Marguerite Pierry, eine ausgezeichnete Parodistin mit frecher Locke und einem gut geschmierten Mundwerk.
Und wenn Ihnen wieder jemand in Paris eine große Revue für dreißig Francs anbietet, dann fragen Sie ihn getrost: »Haben Sie nicht zwei kleine zu fünfzehn –?«
Peter Panter
Vossische Zeitung, 25.04.1925.