Die Tendenzfotografie
Warum kann man den ›Simplicissimus‹ nicht mehr lesen? Warum gibt es kein gutes deutsches Witzblatt? Weil der Typus dieses alten Witzblattes unmöglich geworden ist. Diese mühsam konstruierten Scherze, um einen ein für alle Mal feststehenden Raum zu füllen (»Seien Sie witzig!«); die ›Idee‹, die einem schlecht bezahlten Redakteur einfällt, und die er dann einem Maler in Auftrag gibt; diese veraltete Technik, zu einem gleichgültigen Bild eine Unterschrift zu finden, die ein Witz sein soll –: alles das ist ganz und gar uninteressant. Ganz abgesehen von einem völlig amorphen Publikum, dessen einzelne Schichten gar keine gemeinsamen Interessen mehr außer den trivialsten haben, abgesehen von der Feigheit der Verleger, die Annoncen und Abonnenten, aber kein gutes Witzblatt haben wollen – ganz abgesehen davon ist auch die Technik dieser Blätter von vorvorgestern. Es gäbe schon etwas Neues.
Einen Grosz findet man nicht alle Tage. Die kleinen Zeichner sind nicht übel – ob sie auf die Dauer ein Blatt füllen können, ist zweifelhaft. Es gibt aber ein sehr witziges, politisch unendlich wirksames Kampfmittel – und das ist die Tendenzfotografie. Sie wird viel zu wenig angewandt.
Die Phantasiearmut der sozialdemokratischen Parteiredakteure stattet ihre Bildbeilagen immer noch aus wie zu Großmutters Zeiten – ein tendenziöses Gegengewicht zu den angeblich objektiv berichtenden illustrierten Zeitschriften gibt es nicht. Warum eigentlich nicht –?
Warum macht sich von den Kommunisten niemand daran, im Bunde mit der Fotografie zu kämpfen? (Anfänge sind in ›Sichel und Hammer‹ zu finden.) Die Fotografie ist unwiderlegbar. Sie ist gar nicht zu schlagen. Was allein mit fotografischen Gegenüberstellungen zu machen ist, weiß nur der, ders einmal probiert hat. Die Wirkung ist unauslöschlich und durch keinen Leitartikel der Welt zu übertreffen. Eine knappe Zeile Unterschrift – und das einfachste Publikum ist gefangen. Ludendorff in Zivil; das Automobil eines Bankiers, die Wohnung seines Portiers; Richtergesichter einer preußischen Strafkammer und ihre Opfer; Studenten auf der Kneipe; verhaftete Kommunisten vor und nach Feststellung ihrer Personalien; eine Konfrontation der Physiognomien Lenins und Hindenburgs; eine Parade unter Wilhelm und eine unter Seeckt: das sind Themen, die mit Worten gar nicht so treffend behandelt werden können, wie es die unretuschierte, wahrhaftige und einwandfreie Fotografie tun kann. Die erst durch die Anordnung und die Textierung zum Tendenzbild wird. Sie ist eine maßlos gefährliche Waffe. Der Zeichner kann sich etwas ausdenken. Der Fotograf nicht.
Vom Kino zu schweigen. Da streiten sie sich über die orthodoxe Auslegung des Kommunistischen Manifests herum und sind noch nicht einmal dazu gekommen, das Kino, diese Bibel von Heute, der Arbeiterschaft dienstbar zu machen. Vor lauter Organisation, Bedenken, Kompetenzen und Beratungen kommen sie nicht dazu. Unterdessen haben und benutzen ihn die andern. Das mag wohl nicht von heute auf morgen zu ändern sein. Die Fotografien aber sind da, Dynamit und Sprengpatronen im Kampf der Seelen. Was uns fehlt, ist die tendenzfotografisch illustrierte Kampfzeitung.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 28.04.1925, Nr. 17, S. 637.