Lichtenberg
Ein Werk in die Universitätskirche begraben.
G. Chr. Lichtenberg
Der Verlag Alfred Kröner in Leipzig hat in der Sammlung seiner Taschenausgaben einen Lichtenberg herausgebracht: ›Aphorismen und Schriften‹ (Band 93 der Taschenausgaben). Hübsch gedruckt, sauber ausgestattet; für ein Buch, das honorarfrei ist, scheint mir der Preis von 3,75 etwas hoch, denn wir wollen doch nicht hoffen, dass der philologische Segen des Herausgebers den Preis erhöht hat.
Dieser Herausgeber, Ernst Vincent, hat die Freundlichkeit, einige Sätze von mir im Vorwort zu zitieren, nämlich: »In Deutschland erscheinen alljährlich dreißigtausend Bücher. Wo ist Lichtenberg –? Wo ist Lichtenberg –? Wo ist Lichtenberg –?« Hier ist er, sagt der Herausgeber. Hm.
Die Philologie hat an Lichtenberg ein gutes Werk getan; sie hat die alten, nicht sehr textsichern und vergriffenen Ausgaben in Ordnung gebracht, und zu Beginn unsres Jahrhunderts hat Albert Leitzmann die Aphorismen zum Teil aus der Handschrift herausgegeben. Der deutsche Verlagsbuchhandel hat an Lichtenberg ein sehr schlechtes Werk getan – das Kuddelmuddel ist unbeschreiblich. Das Wertvollste ist vergriffen, es gibt Auswahlbände der Aphorismen, Auswählchen, willkürlich zusammengewürfeltes Zeug, ohne Sinn und Verstand aneinandergebacken, und eine auch nur einigermaßen vollständige und brauchbare Auswahl der gesammelten Schriften gibt es überhaupt nicht. »Jede Auswahl«, sagt Vincent, »trägt den Stempel der Zeit, in der sie entsteht, und des Geistes des Herausgebers.« Das ist richtig.
Diese Ausgabe trägt den Stempel des germanistischen Seminars.
Soweit ich das beurteilen kann, ist die philologische Arbeit einwandfrei, die Kommentare und Erklärungen musterhaft, auch in schwierigen Fällen durchaus verläßlich, das alphabetische Sachregister könnte besser sein – zum Beispiel:
»In Hannover logierte ich einmal so, dass mein Fenster auf eine enge Straße ging, wodurch die Kommunikation zwischen zwei großen erhalten wurde. Es war sehr angenehm zu sehen, wie die Leute ihre Gesichter veränderten, wenn sie in die kleine Straße kamen, wo sie weniger gesehen zu sein glaubten; so wie einer hier pißte, der andre sich dort die Strümpfe band, so lachte der eine heimlich und schüttelte der andre den Kopf. Mädchen dachten mit einem Lächeln an die vorige Nacht und legten ihre Bänder zu Eroberungen auf der nächsten großen Straße zurecht –«
Also worunter finde ich das im Index? Unter »Hannover«, während es doch das nebensächlichste der Welt ist, in welcher Stadt das spielt; ich hatte natürlich unter Straße, Hauptstraße, kleine Straße und dergleichen gesucht. Aber das sind nur Einzelheiten.
Ich las und las … Gehören diese Aphorismen, dachte ich, zu jenen Elaboraten der Literatur, die in der Erinnerung schöner sind als bei der Lektüre? Denn das gibts. Ich verstand den ganzen Lichtenberg nicht mehr. Wo war er? Das da war er doch nicht?
Was wir hier vorgesetzt bekommen, ist ein geistvoller, matt witziger, kluger und gebildeter Professor, ein Stubenhocker, der einiges von der Welt weiß, und so geht das hundert und hundertfünfzig Seiten, bis die Briefe über den englischen Schauspieler Garrick dem, ders noch nicht gewußt hat, verraten: dieser Lichtenberg ist ein herrlicher Prosa-Schriftsteller gewesen, ein bewundernswerter Beobachter, und noch viel, viel mehr. Wo ist Lichtenberg –?
Das Rätsel ist rasch gelöst. In der Vorrede, sicher ein Prunkstück für jedes Seminar, mit eingekapselten Zitaten, so das Werk vorausnehmend, das erst erklärt werden soll, sieht Vincent den Schwerpunkt des kleinen verbuckelten Mannes aus Göttingen nicht in seinem Buckel, sondern in ganz etwas anderm. Lichtenberg: »Die Leute können nicht begreifen, wie es Menschen geben könne, die das sogenannte Weben des Genies in den Wolken, wo ein glühender Kopf halbgare Ideen auswirkt, für Possen halten können, ja wie man so grausam sein könne und ganze Kapitel voll schöner Ausdrücke nicht so hoch achtet als ein Senfkorn von Sache.« Und Vincent fügt hinzu: »Hätten wir von Lichtenberg nichts anders als diesen einen Satz, er gehörte für uns auf immer zu den Verkündern des Notwendigen.« Zu denen er nie gehört hat.
Lichtenberg hat, woran grade Vincent sich erinnern sollte, die Periode der Sturm- und Drang-Genies mitgemacht, und das Wort ›Genie‹ hatte in seiner Zeit einen ganz andern Klang als heutzutage, nämlich, nachdem jene Mode vorübergerauscht war, einen fast herabsetzenden Klang. »Das bürgerliche Moment in Lichtenberg, dieser saubere, nüchterne Sinn für Arbeit, Dienst, Ordnung, Unterordnung … «, den der Herausgeber so herausstreicht, hätte allein nie und nimmer das hervorgebracht, was uns an Lichtenberg wert und teuer ist. Das bürgerliche Moment war da, aber als Gegengewicht gegen das andre.
Wogegen –? Vincent bringt Lichtenberg auf eine Formel. Er nennt ihn »den Menschen am Fenster«. Du lieber Gott! Das war der Mann auch – aber das ist eine Seminarformel, wie ja nirgends so schwache Feuilletons produziert werden wie in wissenschaftlichen Konventikeln. Lichtenberg ist viel, viel mehr gewesen.
Ein Kobold mit einer Blendlaterne. Ein Romeo, der feixen konnte, und der am allerheftigsten dann grinste, wenn er Furcht vor seinem Gefühl hatte. Satyr auf Eis; Gnom im Gletscher; friedlicher Spaziergänger durch bunte Wiesen, ein Blick: und die ganze Landschaft war verzerrt, und »ein schlecht geblasener halber Mond« hing darüber; ein Physiker der Liebe und ein Mathematikprofessor der Gefühle. »Da wird es deutlich«, sagt Vincent, »dass dieser Mensch kein Baumeister ist. Um ihn herum liegen Teile und Brocken … « So hol sie doch der Henker alle miteinander, diese Pauker! Nein, er war kein Baumeister! Und Goethe war kein Radfahrer! Und Schiller exzellierte nicht in breiten Romanen. Und Dante verstand nichts vom Theater. Warum – o Seminar! – sollte Lichtenberg ein Baumeister großer Werke gewesen sein? Mit manchem »irgendwie« und manchem »Wissen um … « wird dargetan, dass es bei ihm sozusagen nicht gereicht habe. Uns langts.
Uns genügt ein Geist, der Aphorismen geschaffen hat, wie sie dann ein Jahrhundert lang nicht mehr wiedergekommen sind. Da gibt es Sätze, die reißen ganze Länder auf. »Der Franzos ist ein sehr angenehmer Mann um die Zeit, wo er zum zweitenmal anfängt, an Gott zu glauben.« Die französische Rückkehr zum Klassischen, die beinah bei jedem bedeutenden Franzosen um die Mitte der Vierziger zu finden ist, uns mit buttergelbem Neid erfüllend, denn die haben wenigstens etwas, wohin sie zurückkehren können: diese Rückkehr ist hier so scharf begriffen, als habe Lichtenberg jahrelang in Frankreich gelebt. Er liebte die Franzosen nicht sehr und vergötterte die Engländer. Und was er über England geschrieben hat, ist eine Pracht.
Er erschlich sich sozusagen die Wahrheit, und er hatte die schriftstellerischen Tricks im Handgelenk. Dieser kleine Mann, der als Kind einmal einen Fragezettel auf den Hausboden gelegt hat: »Was ist das Nordlicht?« im Glauben, die Engel würden das nachts beantworten, hat später auf viele Fragen von sich selber viele Antworten bekommen. Zu viele – doch notierte er sie alle auf. Seine »Sudelbücher«, wie er das genannt hat, sind eine Fundgrube.
In Vincents Auswahl findet man vieles und vermißt noch mehr. Das Bunte fehlt, das Freche fehlt, das Überkugelte, das Drollige, der Duft der Zeit und der höllische Schnaps dieser Klugheit. Politisch ist die Sache völlig in Ordnung – Vincent hat an keiner Stelle tendenziös ausgewählt. Aber er hat aus dem Kobold einen harmlosen Gartenzwerg gemacht, und das war der Mann nicht.
Frage: Wo ist Lichtenberg –? Wo ist Lichtenberg –? Wo ist Lichtenberg –?
Peter Panter
Die Weltbühne, 28.06.1932, Nr. 26, S. 964.