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Otto Reutter

Ein gutes Couplet ist nicht immer wirkungsvoll
und ein wirkungsvolles Couplet ist nicht immer gut.

Otto Reutter

Gestern habe ich eine ganze Nacht verlacht. ›Otto Reutter. Ein Gedenkbuch über sein Leben und Schaffen‹ (im Verlag G. Danner, Mühlhausen in Thüringen, erschienen).

Otto Reutter sang etwas, was es im Deutschen gar nicht gibt, denn die deutsche Sprache hat keinen Namen für: Couplet, Chanson; die bessern Herrn nennen das ›song‹. Wie der Franzose unter ›le lied‹ etwas versteht, was er nicht besitzt, so haben wir keine Chansons. Wir müssen uns erst welche machen. Reutter hat sich welche gemacht: weit über Tausend. Ich kenne gut die Hälfte davon, denn ich habe mir einmal an ein paar stillen Vormittagsstunden in der Musikabteilung der Staatsbibliothek in Berlin alles zusammengesucht, was von ihm da ist, und es ist viel da. Eine merkwürdige Lektüre.


Otto Reutter war ein Künstler und ein Pachulke. Das Buch gibt beide Seiten gut wieder; der Begleittext ist allerdings unerlaubt dumm, die Auswahl ist nicht sehr gut, manche der berühmtesten Lieder fehlen, und wahrscheinlich ist hier und da der Text sanft ausgebessert, denn es ist nicht anzunehmen, dass Reutter vor dem Kriege von ›Marxisten‹ gesungen hat.

Reutter hatte so etwas wie eine politische Überzeugung. Für ihn spricht, dass er nie von ihr abgewichen ist; er hätte sicherlich kurz nach dem Kriege mit gewaltigem Erfolg nach links rutschen können – das hat er nie getan. Hut ab vor so viel Anständigkeit.

Gegen seine Überzeugung spricht, dass sie fürchterlich gewesen ist. »Der Deutsche braucht Kolonien« – Immer feste druff! – und was er nun gar erst im Kriege getrieben hat, das war bitter, bitter. Ein Radaupatriotismus übelster Sorte. Und doch, welch ein Könner auf seinem Gebiet!

Er hatte gegen eine Sprache zu kämpfen, die schwerfällig ist, die man erst biegen und kneten muß, mit der man Jahre und Jahre zu üben hat, bis sie tanzt … bei ihm hopste sie. Massig, polternd, am besten und gemütlichsten im Dreiviertel-Takt, diesem deutschesten aller Rhythmen, lustig im Vierviertel-Takt, was bei uns immer wie ein beschleunigtes Marsch-Tempo anmutet – diese beiden Rhythmen hatte er im Blut. Er traf Töne, deren Resonanzboden sehr tief liegt – hier spricht die Seele deines Volkes, wie etwa in manchen Kitschversen bei Hermann Löns. Was heute bei den Nazis als Lyrik verzapft wird, lebt von diesen alten Mitteln, nur ist dort alles billig, Maschinenspitze. Reutter nähte mit der Hand.

Dabei war sein Deutsch oft grauslich. Er schreibt fast immer »großer als wie du«, er benutzt des Reimes halber Fremdwörter, dass es einen kalt überläuft, und doch, und doch …

Seine Texte hatten eine Eigenschaft, die Paul Graetz einmal sehr gut definiert hat: sie »tragen«. Das heißt, wenn diese Texte von einem schlechten Vorstadthumoristen gebracht werden, wenn sie der jüngste Lehrling auf dem Jubiläumsabend der Firma singt, dann lachen die Leute auch noch. Und mit Recht.

Da ist zu alleroberst jenes erhebende Lied ›In fünfzig Jahren ist alles vorbei‹, die Musik blieb in der Terz hängen, und es hatte beinah etwas Fontanisches.

Und sitzt auf der Bahn du ganz eingezwängt,
Und dir wird noch ne Frau auf den Schoß gedrängt,
Und die hat noch ne Schachtel auf ihrem Schoß,
Und du wirst die beiden Schachteln nicht los,
Und die Füße werden dir schwer wie Blei: In fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Oder bist du beim Zahnarzt – wenn er dich greift,
Und dich mit dem Zahn durch die Zimmer schleift,
Und er zieht und zieht und bricht alles entzwei – In fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Wie das sitzt! Wie das klappt! Wie das abläuft, wie Wasser einen Berg herunter, es kann gar nicht anders heißen, und das ist immer das Kennzeichen eines gut sitzenden Verses. Das da ist, wie mir scheinen will, sein schönstes Lied (es hört ganz nachdenklich auf). Das ist sein bestes, wenn man von ›Ick wunder mir über jahnischt mehr‹ absieht.

Einmal kam er als Idiot heraus, der Text hatte eine ganz dumme Zeile als Kehrreim; er erzählt da, wie gutmütig er sei, und wie er alles tue, was das Gesetz ihm befiehlt, zum Beispiel geht er ins Theater …

Um sieben standen schon haufenweis
Die Leut mit Bons an allen Kassen.
Bloß ick bezahlt den vollen Preis –

und nun, sicherlich mit einem Lachschluckser, der Refrain:

Bloß ick bezahlt den vollen Preis –
Mir ham se als jeheilt entlassen!

Ganz eigentümliche, fast melancholische Einfälle finden sich da, skeptische, mit Bier geschrieben, aber nahe an den Clownspäßen der Genies. Ja, gewiß, er stammte aus Norddeutschland, sehr graziös ist das alles nicht, an Nestroy darf man gar nicht denken, und doch:

Der Tod ist ein schlechter Abschluß vom Leben.
Es wäre viel schöner sicherlich:
Erst sterben, dann hätte mans hinter sich –
und nachher leben …

Ein dicker, gewöhnlich aussehender Mann, Knittelverse und diese ungeheure Wirkung – was ist das?


Wäre ich ein feiner Schriftsteller, so einer, der direkt aus dem Englischen dichtet, oder ein Mann, der seinen kleinen Horizont ›Heimat‹ nennt, oder ein Walle-Walle-Bart oder eine blitzende Brille: dann dürfte ich mich mit so einem wie Reutter gar nicht abgeben, ich weiß. Aber mich reizt dies; worauf ist seine Wirkung zurückzuführen, was war das mit seinen Couplets? Es muß doch etwas gewesen sein. Dreißig Jahre haben die Leute über den Mann gelacht.

»Ich habe vielleicht Millionen Menschen lachen sehn«, hat er einmal zu einem Interviewer gesagt. »Merkwürdig, wie sich der Charakter eines Menschen plötzlich, ohne dass der Betreffende es will, zu offenbaren scheint. Der gemeine wie der vornehme Mensch zeigt sich mit blitzartiger Schnelle beim Lachen seelisch nackt. Lächeln verschönt; aber Lachen verhäßlicht eigentlich.« Er hat sehr genau aufgepaßt, wenn er da oben gestanden hat, sehr genau.

Seine Wirkung rührt an die tiefsten Tiefen künstlerischer Wirksamkeit überhaupt. In jedem großen Schauspieler muß ein Wurstl stecken, sonst wird das nichts. In jedem Genie muß etwas von diesen ganz einfachen Wirkungen zu spüren sein, sonst bleibt der Künstler mit sich und einigen wenigen allein, was weder für noch gegen ihn spricht. Man kann nun von diesen so einfachen und so unendlich schwer zu erzielenden Wirkungen in die Höhe klettern, Reutter ist unten geblieben – aber da, wo er gestanden hat, da sind die Wurzeln der Kraft. Wer mit den Beinen da nicht steht, der wird wohl mit dem Kopf nie in die Sterne ragen. So simpel braucht man nicht zu sein wie er, so primitiv nicht, doch – auch so primitiv. Shakespeare hat es nicht verschmäht. Es war zutiefst nichts andres, verlaßt euch drauf: es war nichts andres.

Das darfst du in Deutschland keinem sagen. Einer, mit dem man lacht, wird leicht einer, über den man lacht. »Was kann denn das schon gewesen sein, wenn wir darüber gelacht haben!« Feierlich mußt du sein, triefend vor Wichtigkeit, geschwollen und von tierischem Ernst. Irgend ein General-Anzeiger schrieb neulich: »Kästner, Mehring und Tucholsky nehmen sich selbst nicht ernst, haben also auch kein Anrecht darauf, ernst genommen zu werden.« Dieses ›also‹ ist der Grund, weshalb es so wenig deutsche Humoristen gibt.

Reutter hatte Humor – neben seiner bewundernswerten Technik, durch die er das Äußerste aus sich herausholte. Diese Technik hatte nur einen kleinen Radius – wäre er Franzose gewesen, er hätte das ›génie de la race‹ gehabt, und das hätte ihm geholfen. So stand er da, ganz auf sich allein angewiesen und auf diese plumpen Hilfsmittel, wenig Erbmasse half ihm weiter, er war aus Gardelegen in der Mark, und so sang er auch. Und doch … wie gut hat er das gemacht! Diese Refrains, die er zum Schluß gar nicht mehr vortrug, er bewegte nur noch die Lippen und ließ das Publikum die Pointe erraten – er verstand sein Handwerk.

Es gibt da einen ästhetischen Reiz, der zum Teil in der Freude des Hörers besteht, dass es so schön klappt. Schopenhauer nahm dabei als primäre Wirkung die Wohlgefälligkeit des Klangs an, über den hinaus sich dann – gewissermaßen als unerwartete Zugabe – auch noch ein Sinn ergibt. Das ist es. Reutter hat mir einmal auf meinen Wunsch für den ›Ulk‹ ein Couplet geschrieben. Der Zeichner Willibald Krain zeichnete den Dicken; der schrieb, und die Sache war sehr lustig; er sang vom echten Zigarrenblatt in einer Zigarre und vom konservativen Wahlzettel in der Wahlurne, und das mit dem Refrain:

Der muß wohl aus Versehen
da reingekommen sein.

Und zum Schluß hieß es: wie denn das käme – der Reutter sänge doch sonst Couplets, schriebe sie aber nicht.

Im ›Ulk‹ sieht man ihn stehen,
Dazu ein Bild von Krain.
Der muß wohl aus Versehen
……

Da sitzt eben der Refrain wie der Artikel 48 in der Reichsverfassung. Er gehört dazu.

Doch erklärt das seine Wirkung noch nicht ganz. Es gibt eine Tatsache, die viele Menschen, so auf Podien stehn, nicht zu wissen scheinen: das Ohr nimmt weniger auf als das Auge, es nimmt viel schwerer auf, eine Sage ist keine Schreibe. Das ist den wenigsten klar zu machen. Wenn ich mich beklagen wollte, dass man mich – außerhalb der Arbeiterorganisationen – auf den Podien vorn und hinten bestiehlt, meine Arbeit verwertend, ohne mich zu bezahlen, dann beklagte ich mich vor allem deshalb, weil man mich dadurch so oft blamiert. Die meisten Verse, die ich geschrieben habe, sind für das Auge geschrieben – sie klingen nur so, als wirkten sie auch gesprochen. Das tun aber manche mitnichten, ich weiß es. Die für das Ohr geschrieben sind, veröffentliche ich selten, denn sie erschienen wieder dem Auge leer. Lesend verstehn wir sehr rasch – hörend viel, viel langsamer. In einer zu singenden Strophe ist nur für einen einzigen Gedanken Platz – in einer gedruckten darf, ja, sollte jede Zeile etwas Neues enthalten. Reutter hatte das Ohr seines Publikums, weil er gewußt hat, wie dieses Ohr beschaffen ist.

Wirkt das heute noch, was er da vorgetragen hat? Kaum. »Was uns heute als Triumph des guten Geschmacks vorkommt«, hat Peter Sturz in einem Modebericht des Jahres 1768 gesagt, »sinkt vielleicht morgen zum Unsinn herab. Wir gähnen bei dem Witz unsrer Väter; merkts euch, ihr Lustigmacher des Haufens, die ihr von Ewigkeit träumt!« Nein, es wirkt heute wohl nicht mehr. Zunächst erscheint uns ja beinah alles, was wir vom Alltagskram des Gestern lesen, viel zu lang. Dann aber ist in diesen Strophen die Luft der Zeit, Reutter spielte, wie jeder, der nur auf den Tag wirkt, mit den Assoziationen seiner Zeitgenossen, und diese Assoziationen sind nicht mehr da. Wenn ich seine Verse lese, dann sehe ich düstere Vorstadtstraßen mit roten Laternen vor mir, die Friedrichstraße mit den Pferdeomnibussen und einem Nachtleben, das roher, bunter und bewegter war als es heute ist, und vielleicht ist diese Beobachtung unrichtig; ich war jünger. Der blau eingewickelte Schutzmann geistert durch die Zeilen; der Kaiser; hohe Kragen der Kavaliere und der ganze Kram von dunnemals. Er war nicht besser und nicht schlechter als der heutige – er war anders. Daher wirkts nicht mehr.

Und doch hält sich manches. Der Witz und die Schlagfertigkeit des Mannes; da kam einst beim Frühschoppen eine Postanweisung an. Der Pastor seines Heimatortes fragte ihn: »Was machen Sie eigentlich mit dem Sündengeld?« Und Reutter: »Ich zahle meine Kirchensteuern damit, Herr Pfarrer!«

Und dann diese Geschichte hätte ich so gern von ihm hören mögen: wie der alte Direktor des berliner Wintergartens, Herr Baron, einen Theateragenten in den April schickte: in Frankfurt wäre ein Komiker, der hieße Schopenhauer, und den sollte der Agent mal bringen. Der Agent ab nach Kassel, nein, nach Frankfurt. Und kam zurück. Und sprach:

»Na, mit den neuen Komiker, den Schoppenhauer. Ick hab Ihn ja jleich jesacht: Wat ick nich kenne, is nischt, un mit den neuen Komiker is et jahnischt.« Nicht möglich! sagte der Direktor. »Jahnischt«, wiederholte der Agent. »Da ham Se sich 'n scheenen Bärn uffbinden lassen. Ick bin jeloofen von Pontius zu Pilatus, der Kerl war nich zu finden – und denn hab ick erfahrn, det a dot is, jawoll, schon üba dreißig Jahre ist der dot, und denn will ick Ihn noch wat sahrn:

Bekannt war er ja. Aba – ick habe mir jenau akundicht: so sehr komisch is der Mann nie jewesen –!«

Nun ist Reutter dahin. Seinesgleichen? Na, viel ist es nicht damit. Da gab es damals Julius Freund vom Metropol-Theater, der war in der Technik des Versbaus mindestens so gut, aber spitzer, südlicher, spritziger und mitunter fatal konfektioniert. Da ist jetzt Marcellus Schiffer, der fast immer die allerherrlichsten Einfälle hat, und manchmal denke ich, verzeih mir die Sünde, man müßte ihm die Einfälle fortnehmen, denn was er daraus macht, ist nicht immer gut, und dann ist da, aber ganz und gar allein, Friedrich Hollaender, der die besten Texte schreibt, die heute bei uns geschrieben werden. Walter Mehring, notre maître à tous, ist wieder eine andre Sache und gehört nicht ganz in diese Schublade. Und drüben bei den Franzosen haben sie Rip, einen geistvollen Mann von vollendeter Gesinnungslosigkeit, und wenns dem glückt, dann glückts ihm aber richtig. Frech wie Oskar und so ziseliert!

Otto Reutter wußte, was er da trieb. »Ich hatte früher mal den Größenwahn, bis ich an ein Varieté kam, wo ein dressierter Affe besser gefiel als ich.« Jeder gute Schauspieler wird diesen Satz verstehn.

Solche Reutter gibts in allen Ländern, und es hat sie zu allen Zeiten gegeben. Es hieße an einen Fortschritt glauben, wollte man annehmen, dass sich die Mittel ändern, mit denen man auf Menschen wirkt. Die Formen wandeln sich und sind regional verschieden, der tiefere Grund bleibt. Diese Komik, diese Wirkungen und dieser Humor stoßen mit dem Kopf an die Zimmerdecke Reutters, und damit an den Fußboden jener Wohnung, in der Jaroslav Hasek wohnt, der Vater des göttlichen Schwejk, dessen Konfiskation dem Reichsgericht hiermit herzlichst empfohlen sei. Denn das hat Schwejkn noch gefehlt.

Otto Reutter aber und seine Leute: es sind. Künstler der untern Stockwerke. Doch sollen die von oben nicht hochmütig tun. Ohne die da unten wären sie nicht.

Peter Panter
Die Weltbühne, 16.02.1932, Nr. 7, S. 254.