Pfiff im Orgelklang
Redakteure und Zeitschriften-Herausgeber haben gern das ›letzte Wort‹, das hat so etwas Überlegenes. Das ist eine dumme Sitte. Denn Anstellungsverträge mit Verlagen begründen keine geistige Superiorität; das glauben nur die meisten Zeitungsredakteure, und dieses Spiel soll hier nicht gespielt werden. Wäre Hans Flesch Redakteur und ich sein Mitarbeiter, dann ›führte‹ er mich ›ab‹, doch will ich ihn gar nicht abführen.
Weil er nicht abzuführen ist. Unser beider Auffassungen tun nur dar, wie Friedrich Nietzsche auf zwei verschieden gebaute Menschen wirkt, auf einen dicken, und, wie ich vermute, auf einen hagern. Ich für mein Teil bin dick, was mit dieser Frage viel mehr zu tun hat, als man glauben sollte. Kretzschmer, der Verfasser von ›Körperbau und Charakter‹, hat es uns gelehrt.
Die Diskussion nach der Melodie fortzuspinnen »Er kämpft gegen etwas an, was ich nicht behauptet habe«; »Herr Flesch scheint nicht zu wissen … « – es liegt kein Anlaß vor, den Leser damit zu langweilen. Daß ich einmal Josef Hofmiller werde verteidigen müssen, ist mir nicht an der Wiege gesungen worden, aber hier muß ichs tun. Hofmiller habe Nietzsches geringe Leserschaft mit den Maßstäben der Großauflagen deutscher Kriegsbücher gemessen? Nietzsche, Nietzsche hat mit einer Leserschaft geprotzt, die er nicht hatte, so die Bedeutsamkeit seines Werkes durchaus auf seine Verbreitung stellend, und Hofmiller hat dieses Geprahl auf das richtige Maß zurückgeführt.
Was die Hakenkreuzler angeht, so haben sie ihren Nietzsche bereits; warte nur balde, und ich werde zu hören bekommen, dass ich den großen Mann nicht begriffen hätte, weil mir der Sinn fürs Heldische fehle. Er fehlt mir mitnichten. Was ich aber in stärkstem Maße besitze, ist ein Mißtrauen gegen falsche Helden, und Nietzsche halte ich für einen geheimen Schwächling. Er heroisiert, so wie einer masturbiert. Und Flesch hat richtig empfunden, dass man ihn nun bald gegen seine Anhänger in Schutz nehmen muß – wohin ist dieses Werk gerutscht! Sähe er das, schaudernd wendete er sich ab. Er ist mein guter Feind, er hat sehr schlechte Freunde. Und ich habe bisher stets geglaubt, ein gutes Gefühl für das zu besitzen, was sich der Satire entzieht, ich fühle Rangunterschiede auf das deutlichste, und ich weiß, in wie ungünstiger Position sich diese Polemik gegen Nietzsche vollzieht: ich schieße von unten nach oben. Und doch sagt mir mein Empfinden, dass diese Pfeile ihn noch erreichen.
Ich hätte an Nietzsche eine Gotteslästerung begangen, sagt Flesch.
Erst baut ihr euch ein Ding auf ein Postament, dann betet ihr es an, dann seid ihr stolz, dass ihr anbeten dürft, und verachtet die, die es nicht anbeten, und über ein kleines: so seid auch ihr Zeloten und bigotte Atheisten und Pfaffenknechte, auch ihr. Ich liebe Hamsun auf das höchste, sein Werk begleitet mich durch mein Leben – aber eine Hamsun-Lästerung ist mir nicht vorstellbar. Ein Mann, der an Hamsun vorbeigeht und ihn für einen Weiberromancier erklärt, ich möchte ihn nicht zum Freund haben. Eine Frau, die über Hamsun achselzuckend zur Mode übergeht, ich könnte sie nicht lange lieben. Aber lästern? Lästert, es trifft ihn gar nicht.
Hier aber muß etwas getroffen haben, und hier hat etwas getroffen. Muß ich als Tausendster dartun, dass dieser Nietzsche ein Jahrhundertkerl gewesen ist, ein großer Schriftsteller, niemals ein Philosoph, einer der geistreichen Deutschen, ein großer Prophet aus einer kleinen Zeit? Seine Zeit … Er hat aus ihr hervorgeragt, sagt Flesch. Aber es wäre eine Beleidigung, ihn mit den Maßstäben seiner Zeit zu messen, um Leipzig wirkt jeder Hügel wie ein Berg, aber höher wird er davon auch nicht.
Je öfter ich Nietzsche lese und die um ihn, um so stärker wird mein Gefühl, das jeder schelten darf: hier ist etwas nicht in Ordnung. Hier wird geprahlt. Hier wird etwas vorgetäuscht, das so nicht da ist. So gefährlich ist sein Weg nicht gewesen, so hoch hinauf hat er nicht geführt, so neu ist das nicht, so wild ist das alles nicht. Franz Blei hat einmal die Adepten Stefan Georges »schwärmerische Privatdozenten« genannt – dieses Wort trifft auf bestimmte Stellen in Nietzsches Werk gleichfalls zu. Ein lyrischer Humanist, unter anderm; oft mehr, aber ein schwacher, lyrischer Humanist.
Die Gegner schieden unversöhnt.
Auf der einen Seite die Nietzsche-Leute, einen ondulierten Blitz im Wappen. Achselzucken, Gepust durch die Nase, Verachtung, ab durch die Mitte: »Er versteht es eben nicht.«
Auf der andern Seite einer, der sich des Größenunterschiedes wohl bewußt ist; einer, der Ehrfurcht hat, aber nur, wo er sie empfindet, und hier empfindet er sie nur teilweise, und mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen. Einer, dem zum Beispiel Schiller nicht viel zu sagen hat, aber nie, niemals wagte er einen Hieb: denn Schiller ist echt, bis ins Theatralische hinein diamantenecht.
Nietzsche steht; Herr Wrobel wird ihn heute nicht entthronen. In zweihundert Jahren werden wir uns wieder sprechen.
Über das schandbare Urheberrecht aber wird vorher noch einiges zu sagen sein.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 02.02.1932, Nr. 5, S. 164.