Sein spannendster Roman
Fremde Literaturen von innen zu sehn: das ist uns nicht oft vergönnt. In Paris habe ich die Nasenspitze in diesen Laden gesteckt – schön wars nicht, es roch auch nicht gut. Die bessern Leute verhalten sich dort still oder sitzen in der französischen Provinz, und in die Augen springt das Gelle, das Grelle, das Laute. Ein sonderbarer Betrieb, den mitzumachen schon eine erhebliche Charakterlosigkeit erfordert. Es gibt erfreuliche Ausnahmen und es gibt Grasset, der mit wildem Gefuchtel alle halbe Jahr an etwas andres glaubt und dadurch auch die andern veranlaßt, es zu glauben. Für sechs Monate. (Paul Cassirer war so ähnlich; nur kälter und böser.) Solche Leute richten mitunter manches Gute und manchmal viel Unheil an. Ja, das sind die Franzosen, und über die wissen wir ja einiges – aber wie sieht die amerikanische Literatur von innen aus?
Das zeigt uns einer, dem ich das nie zugetraut hätte: Upton Sinclair. ›Das Geld schreibt‹; eine Studie über amerikanische Literatur (erschienen im Malik-Verlag zu Berlin).
Sinclair steht bei mir unter den Aussortierten; ich mag ihn nicht. Seine Romane sind, je neuer sie sind, um so altbackner; seine Dialoge aus Pappe, seine Gesinnung untadlig und recht langweilig ausgedrückt. Er hat oft recht, aber ich schlafe dabei ein. Dieser Band kleiner Essays jedoch ist quicklebendig von der ersten bis zur letzten Zeile, amüsant, bunt, bewegt und bewegend; etwas außerordentlich Interessantes.
Sinclair nimmt seine Kollegen durch. Was uns das angeht? Sehr viel. Er tut es nämlich mit so grundsätzlichen Erwägungen, so lehrreich und so kritisch, auch da, wo er irrt, grade da, wo er irrt, dass man den deutschen Schriftstellern nur wünschen kann, dergleichen mit eben so wenig Pose, mit so wenig Brille und mit so wenig Aspekt auf Olympisches zu tun, das bei uns die Leute über vierzig so leicht befällt. Dieser Band ist in kurzen Hosen geschrieben.
Sinclair macht also nicht den fatalen Fehler, subjektive Abneigungen in scheinbar objektive Historie zu kleiden – das ist ein alter Trick. Er sagt vielmehr: diesen mag ich nicht, und jenen liebe ich, und dieser ist mir ein Greul und ein Scheul, und jener ist korrumpiert. Wodurch?
Dies ist die These des Buches:
»Die Künstler, die heute unsern Luxusklassen dienen, erscheinen mir wie Affen in einem Käfig, die nichts andres zu tun haben, als sich gegenseitig nach Läusen abzusuchen und das Publikum mit unzüchtigen Vorführungen zu beglücken.« Gar nicht übel formuliert, und ganz nebenbei: wahr.
Fast ganz ohne Beispiel ist zunächst, was Upton Sinclair über Upton Sinclair sagt. »Als der Weltkrieg ausbrach, ergoß sich der Idealismus Amerikas in einen neuen Kanal. Die amerikanischen Schriftsteller wurden – wie die übrige Bevölkerung auch – organisiert und militärisch gedrillt. Wir nannten uns die ›Erwachenden‹. Vielen von uns wäre es heute peinlich, an die Possen jener Zeit erinnert zu werden. Zehn Jahre sind indessen verflossen; einer dieser amerikanischen Schriftsteller nimmt sich hier vor, in kurzen Worten von seiner Schande zu berichten und die Tausende von jungen Menschen um Vergebung zu bitten, die er ins Schlachthaus hinüberlocken half.« Wir haben in Deutschland und Österreich eine literarische Gesinnungspolizei; ich möchte mal sehen, ob einer von diesen Jungens jemals so über sich selbst zu schreiben imstande wäre.
Er nimmt also amerikanische Schriftsteller durch, und da wir viele davon kennen, so ist das auch für uns wichtig. Er steht ihnen ja näher als wir.
Er macht das mit sehr viel Witz; mit so viel Witz und Humor, wie sie in keinem seiner Romane zu finden sind. Dieses kapitalistische System, sagt er, »verlangt, dass jeder Mensch so aussieht wie eine Schneiderreklame und so denkt wie der Mann, der den Text dazu gemacht hat«. Nach dieser Melodie kritisiert er sie.
Hergesheimer zum Beispiel: sehr böse und fast ganz negativ. Ein Snob! und: Elfenbeinturm! und so über viele Seiten. Alles zugegeben: aber ›Tampico‹? Dieses Buch Hergesheimers ist von einem Mann für Männer geschrieben und für kluge Frauen, ist das auch snob? Das ist nicht snob.
Dreisers ›Amerikanische Tragödie‹ sei eine komplette Sonntagsschulpredigt; dreimal Ja! Obgleich und weil Galsworthy uns das Gegenteil einreden will. Einmal führt Sinclair anläßlich eines Romans von Reverend Wright die »Just-Technik« vor, wie Kerr das genannt hat (»Just in diesem Augenblick trat der langersehnte Sohn ins Zimmer«), und Sinclair, der ein Amerikaner ist, macht das mit Zahlen. Er rechnet nämlich die Wahrscheinlichkeit aus, mit der sich die Handlung des kritisierten Buches begeben könnte. Also etwa so: »Der Held, ein Verbrecher, gelangt auf seiner Flucht vor der chicagoer Justiz in ein Dorf der ozarker Gegend, wo ›Tante Sue, das goldene Mutterherz mit dem Silberhaar‹ wohnt. Da es schätzungsweise dreitausend Dörfer gibt, in die er hätte fliehen können, so haben wir hier eine Anfangswahrscheinlichkeit von 1:3000.« Schlußergebnis: die Handlung des Romans kann im Leben vorkommen, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von 1: 345600 Quatrillionen.
Dies aber ist der Grundgedanke des Buches: Die herrschende Klasse hält sich ihre Künstler, wie man sich einen Kanarienvogel hält. Singt er, ists gut; singt er nicht oder, was noch schlimmer ist, nicht die gewünschte Melodie: dann wird er abgeschafft. Das ist so selbstverständlich, sollte man meinen, dass das jeder Künstler erkennen müßte. Dem ist aber nicht so. Viele von uns bilden sich noch immer ein, vom Mond heruntergefallen zu sein und dort selbst, wenn auch möbliert, zu wohnen; sie sehen die Zusammenhänge nicht. Die Abhängigkeit des erfolgreichen, rege produzierenden, durch seine Arbeit lebenden Schriftstellers von der herrschenden Klasse ist überall gleich groß. Das Geld schreibt? Man sollte viel mehr sagen: »Das Geld verhindert, zu schreiben.« Denn der Angelpunkt, um den sich ganze Literaturen drehen, ist das, was nicht in ihnen steht. Hier ist Sinclair ganz und gar im Recht, ganz und gar.
Wenn Sinclair nun ein wenig naiv fordert, man müsse »die Geschäftsleute aus der Literatur ausschalten«, so entspricht das seinem etwas vormärzlichen sozialen Standpunkt: er ist ein sauberer Individualist, sein Herz schreit auf über »das, was unrecht ist in der Welt«, – aber seine Gegenvorschläge sind oft leer und manchmal ganz und gar unwirksam. Das werfen ihm die Kommunisten mit Recht vor.
Die Rolle des Künstlers in dieser Gesellschaft aber hat er klar erkannt. Er sollte nur nicht das Geld allein dafür verantwortlich machen; er sollte die Geltung hinzufügen, den Drang nach Geltung. Ein bißchen verschweigen, um das Entscheidende herumschweigen, ist so leicht und so verführerisch, wenn man dafür die Geltung eintauschen kann, den Erfolg, den Ruhm und die Beachtung der Welt, in der man lebt. Sicherlich hat keiner der kapitalistischen Staaten auch nur das leiseste Recht, sich über die geistige Unfreiheit in Rußland aufzuhalten; in keinem dieser Staaten, wenn man vom Balkan absieht, hat der Schriftsteller mehr Recht als dies: nicht körperlich verbrannt zu werden. In keinem dieser Staaten läßt die Industrie der periodischen Literatur jene zu Worte kommen, die den Interessen der Kapitalisten schädlich werden können, das ist ein natürlicher Vorgang: es ist Krieg. Die Russen tun genau dasselbe, nur mit dem Unterschied, dass sie ihren legalisierten Terror für die Proletarier ausüben wollen. Welches Resultat das haben wird, bleibt abzuwarten. Der Schriftsteller aber, der sein Wirken für unabhängig hält, nur, weil er geschickt laviert, ist genau so eine lächerliche Figur wie jener, der seinen Unterhaltungskram für Dichtung hält, und welcher Macher täte das heute nicht! Seit der Oktoberrevolution des Jahres 1917 besteht der Kapitalismus aus Angst und bösem Gewissen, also ist er noch grausamer als er vorher schon gewesen ist. Daher auch die maßlose Überschätzung der Musik, weil die keinem etwas tut. Und nichts wirkt komischer als die Wichtigtuerei, mit der der geduldete Künstler sein Werk betrachtet. Was ist er denn? Er hat, wie die Hühner, einen Auslauf aus seinem Käfig und mehr nicht. Sinclair hat tausendmal recht.
Nicht so unbedingt kann ich ihm in einer ästhetischen Frage zustimmen, die sich politisch gibt, es aber nicht ist. Der Mann ist unmusikalisch; man braucht nur zu hören, wie er über einen Dichter schreibt, von dem ein Gedicht zitiert wird: George Sterling. Das Gedicht wirkt noch in der Übersetzung erschütternd.
Der Mann, der ich nicht bin:
Und in der Nacht, da sah ich klar,
Ich fing zu zählen an:
Er hat so vieles gut gemacht,
Ich habe nichts getan.
Soll ich, sein schlechtes Ebenbild,
Beweinen, was schon hin?
Er weiß, wie billig Tränen sind,
Der Mann, der ich nicht bin.
Sinclair beklagt von diesem verstorbenen Sterling, er sei ein Trinker gewesen. Das ist gewiß sehr bedauerlich, aber Sinclair ist nüchtern und nichts als das. Ich verteidige nicht den Mißbrauch des Alkohols – ich mißbillige nur eine brave, eine wohlgesittete, eine undämonische, eine Limonaden-Kunst. Und es gibt, wahrlich, ich sage euch, es gibt auch rote Limonaden.
Dieser völlige Mangel an Verständnis für das, was lyrische Kunst ist, fällt immer wieder auf. »Lyriker sind Geschöpfe, die sich mit ihren eigenen Säften in einen Kokon verspinnen.« Und dann, ganz tantenhaft: »Jede wahrhaft große Kunst ist optimistisch.« – »Ich halte den Pessimismus, wo er und unter welchen Umständen immer er erscheint, in Kunst, Philosophie, oder Alltag für eine Art Geisteskrankheit.« Auch du Babbitt? Zweimal zwei ist vier; das ist wahr. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. »Wozu nähme man sonst die Erschütterungen des künstlerischen Schaffens auf sich?« Wozu –? Weil man muß, Sinclair.
Hier, im Grundgedanken, hat er recht und unrecht. Unrecht hat er, wo er den griechischen Göttinnen Strickstrümpfe überzieht, und es gibt diese Göttinnen, es wird sie ewig geben, »Die Antike«, steht bei Kierkegaard, »ist ein Präsens; die Romantik ist ein Aorist.« Und die herkömmliche Poesie des Klassenkampfes ist ein Futurum, allwelches Tempus bekanntlich in den meisten Sprachen keine eigne Form hat, sondern aus bereits vorhandnen Formen zusammengesetzt wird. Sinclair macht sich das Leben einfach, im Grunde so einfach wie das Weltbild des Schrecklichsten aller Schrecken: einer amerikanischen Dame der bessern Gesellschaft. »Wir hätten« (im Anschluß an das Andersensche Märchen von des Kaisers neuen Kleidern gesagt) »einen kleinen Kritikerjungen dringend nötig, der in ganz gewöhnlichem Alltagsenglisch sagt: ›Das ist ja alles Beischlaf!‹« Der Ruf könnte oft nicht schaden, aber: ist nicht sehr vieles wirklich nur dies und sonst gar nichts? Man hebt mit Recht als Plus hervor, dass es in Rußland wenig Lüsternheit gebe – die Leute haben sie nicht nötig, im Leben nicht und in der Literatur auch nicht. Gut. Doch sind damit die irrationalen Kräfte beseitigt, die Imponderabilien, eben das, was sich marxistisch nicht auflösen läßt? Und nun werde ich ja wohl exkommunisiert werden.
Man sagt zweihundertundzwölf Mal Nein zu Sinclairs Buch, auf jeder Seite ein Mal. Und man sagt zweihundertundzwölf Mal Ja – und das ist viel, beinah alles, was man von einem Buch verlangen kann. In der Übersetzung ist übrigens ein kleiner Fehler stehen geblieben: »Pétrone Ingénu« heißt nicht: »aufrichtiger Petronius«, sondern: naiver Petronius, harmloser, unschuldiger Petronius.
Und fast gar nichts habe ich von einer Eigenschaft des Buches gezeigt, die man in der angelsächsischen Literatur so häufig trifft und in der deutschen so wenig: die Leute haben Humor, noch im Ernst haben sie Humor. Die Polemiken etwa mit Mencken … das ist bezaubernd. Noch wo sie zupacken, haben sie Zeit, im Kampf einmal »Oh dear!« zur Galerie hinaufzurufen, alles freut sich, und der Kampf geht weiter. Ein Tier lacht nicht. Der Angelsachse kann lachen, weil er lachen kann.
Zeige mir von fein einen dicken Roman Sinclairs, und ich will laufen, dass der Trainer sagt: »Beinah so gut wie das letzte Mal bei Unruh.« Dieses Buch aber – ›Das Geld schreibt‹ – ist sein spannendster Roman.
Peter Panter
Die Weltbühne, 10.03.1931, Nr. 10, S. 360.