Reparationsfibel
Warum ist doch der Deutsche nach dem für ihn verderblichen und schimpflichen Frieden, da man ihn wie eine Heerde theilt, aufgebrachter auf die Franzosen, als selbst auf die Engländer und einen ihrer größten Bundesgenossen während des Krieges? Weil der Mensch immer mehr auf die Wirkung, durch die er leidet, als auf die Ursache sieht, die das Leiden veranlaßt hat.
F. M. Klinger: ›Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur‹. 1802
»Der gegenwärtige Rechtszustand ist der, dass die westfälischen Schienenwalzwerke mit den lothringisch-französischen Werken zusammen beschließen können, auf dem Wege höherer Schienenpreise der deutschen und der französischen Republik eine neue Steuer aufzuerlegen, dass aber die beiden Regierungen nicht darüber verhandeln dürfen, ob sie gemeinschaftlich gegen ihre Ausbeuter vorgehen wollen.« In der gar nicht genug zu empfehlenden Broschüre Rudolf Kellers ›Deutschland und Frankreich‹ (erschienen bei R. Piper & Co. in München) findet sich dieser Satz, benebst vielen andern Sätzen, die in keiner großen deutschen Tageszeitung zu finden sind – aus begreiflichen Gründen. »Nicht die Verzweiflung des ganz kleinen Mannes ist das Charakteristische des heutigen Deutschland, sondern die Desertion des Kapitalisten. Der oberste Grundsatz des Kapitalismus ist, dass der Unternehmer ein Risiko trägt und dafür einen verhältnismäßig größern Anteil am Gesamtgewinn in Anspruch nimmt. Der reichsdeutsche Kapitalist jedoch will kein Risiko mehr tragen, wie zuerst Professor Bonn mit Nachdruck gezeigt hat. Er hat sich der kommunistischen Grundanschauung angeschlossen, dass alles von der Gesamtheit oder vom Staate erhalten werden muß, er will am liebsten in der heutigen Lage Deutschlands keine Investitionen mehr wagen … « Keller zeigt zweierlei: dass zwei Drittel der Young-Plan-Raten an die amerikanische Regierung gezahlt werden, und zwar indirekt – und dass viel größer als diese Zahlungen, verlogen ›Tribute‹ genannt, jener Überpreis ist, den das deutsche Volk an seine Ausbeuter: an die Landwirtschaft, die Stahl- und Kohle-Herren, an die Kartelle und Trusts bezahlt. Das kann kein Volk auf die Dauer tragen.
Was tut es also –? Es läßt sich anlügen. Und glaubt diesen Dreck auch noch, den einige fünfzig kapitalistische Dynastien durch Presse, Kino, Kirche und Schulen herunterregnen lassen. Die kleine Oberschicht regiert unumschränkter als es jemals ein asiatischer Fürst getan haben dürfte: sie ergänzt sich, nicht etwa nach den Grundsätzen des freien Wettbewerbes, sondern durch Kooptation, durch Heirat, durch Erbschaft, und sie nimmt Unfehlbarkeit für sich in Anspruch. Wenn diese Krise jetzt einen positiven Erfolg aufweist, so ist es, hoffen wir, der des erschütterten Vertrauens in jene Gesellschaft.
Die Verblödung dieses Bürgertums ist vollständig.
Sie sehen nichts, sie hören nichts, und der himmlische Vater ernährt ihre Ausbeuter dennoch. Und wo bleiben deren Gewinne?
Wofür kein Geld da ist, wissen wir. Für Löhne zum Beispiel. Diese schlechten Karikaturen eines epigonalen Kapitalismus suchen ihre Absatzmärkte lieber in der Mandschurei als zwischen der Elbe und der Oder. Da wohnt ein geduldiger Stamm, der wie die angespannten Büffel für die gesamte übrige Welt arbeiten soll und auch arbeitet, und niemals für sich. Alle stellen etwas her, was sie selber nicht kaufen können; ihre Hungerlöhne reichen nicht. Und die Weisheit ihrer Antreiber kennt bei allen Krisen nur ein einziges Mittel, nur eines: die Löhne der Sklaven noch mehr herabzusetzen, immer wieder herabzusetzen. Wenn nur der Export garantiert ist.
Und wo bleiben die Überschüsse? Wofür ist Geld da?
Für die Unterstützung Hitlers, in dem diese Wirtschaftsführer mit Recht einen Hort und einen Schutz gegen ihre Arbeiter sehn. Und wofür ist noch Geld da? Für die dümmste, aber auch schon die allerdümmste Propaganda, eine von der Sorte, wie sie bereits im Kriege das vergnügte Lächeln der Gegner Deutschlands hervorgerufen hat.
›Reparationsfibel‹, Bilder von O. Garvens, O. Gulbransson (leider), Th. Th. Heine (leider, leider), E. Schilling, W. Schulz und Ed. Thöny. (Erschienen bei der Verlagsbuchhandlung Broschek & Co., Hamburg.)
Es ist ein großes Heft, mit bunten Bildern; es herzustellen war gewiß nicht billig. Doch wir habens ja. Es ist viersprachig: die Deutschen, die Engländer, die Franzosen und die Spanier dürfen von dieser Weisheit profitieren. Das Spanische kann ich nicht kontrollieren – die andern Sprachen sind einwandfrei benutzt, die fremdsprachigen Bildunterschriften sind sehr gut. Aber welcher Unfug!
Da wird neben manchem richtigen einem Ausland, das zum Glück nicht hinhört, eingebleut, wer oder was an der deutschen Krise schuld sei. Die verbrecherische Auspowerung deutscher Arbeitskräfte durch die eignen Landsleute? Ach, keine Spur. Es liegt alles, alles am Frieden von Versailles.
Erste Lüge: der Waffenstillstand sei im Vertrauen auf Amerika abgeschlossen worden. Falsch. Der Waffenstillstand ist abgeschlossen worden, weil die Deutschen nicht mehr weiter konnten. Es war aus.
Zweite Lüge (eine Verschweigung): die Deutschen haben mit ihren Gegnern, mit den Rumänen und den Russen, genau dasselbe gemacht, was Versailles mit den Deutschen gemacht hat. Wozu führt man auch sonst Krieg? Um den Gegner möglichst zu schwächen. Die Deutschen haben mit den Franzosen und den Engländern genau dasselbe machen wollen, was die später mit ihnen gemacht haben; das zeigen die zahlreichen Forderungen der Wirtschaftsführer und besonders der Schwer-Industrie während des Krieges.
Dritte Lüge: Der deutsche Michel und der Warenüberfluß der Welt. Dadurch, dass Deutschland als Käufer ausfällt, gerät der Weltmarkt an einigen Stellen in Unordnung; weitere Folgen hat das zunächst nicht.
Vierte Lüge: Die Weltarmee der Arbeitslosen hat wenig mit dem Frieden von Versailles zu tun, dagegen alles mit jenem großen Krieg, den die Kapitalisten in ihrer abgrundtiefen Dummheit gegen die Arbeiter aller Länder führen.
Fünfte Lüge: »Wehe euch, wenn ich abstürze«, sagt der mit dem versailler Rucksack beschwerte deutsche Bergsteiger zu dem hinter ihm kletternden Franzosen, Engländer, Italiener, Polen. Falsch: England und Frankreich und Italien sind keineswegs auf Deutschland allein angewiesen, das ist eine sinnlose Überschätzung der deutschen Position.
Sechste Lüge: »Kanada kann mit Weizen heizen, aber die Deutschen können ihre Kohlen nicht essen.« Dann sollen sie den kanadischen Weizen hereinlassen. Das tun sie aber nicht. Die deutsche Landwirtschaft verhindert vielmehr seit dreißig Jahren mit allen Mitteln, dass die hohen Lebensmittelzölle fortfallen; sie will ihren veralteten und unzureichenden Betrieb gegen die ausländische Konkurrenz schützen, auf Kosten der Deutschen, die teures und schlechtes Brot essen müssen. Aber Kanada heizt mit Weizen.
Siebente Lüge: »Nehmt diese Last – Versailles – von der Welt, und sie ist geheilt.« Falsch: es gibt allerdings eine Last: wenn man die von der Welt nimmt, dann ginge es ihr besser, und das ist der Kapitalismus, der wohl Geld hat, einen solchen Schund wie dieses Heft zu bezahlen, aber gar kein Geld, seine Gewinne anständig zu verteilen.
Es ist, wie wenn Gott sie mit Blindheit geschlagen hat, um sie desto sicherer zu verderben. Daß um sie herum alles verdorrt; dass diese Angestellten, denen sie kleine Brotbrocken hinwerfen, damit sie nicht auf den Kuchen schielen, immer lustloser arbeiten, weil es ja keinen Sinn mehr hat, diese Arbeit zu verrichten – das sehen sie nicht. Sie machen Propaganda. Dafür haben sie Zeit, und dafür haben sie Geld.
Daß diese Propaganda nun auch noch gänzlich nutz- und sinnlos vertan ist, sei nur nebenbei erwähnt. Welcher grandiosen Täuschung gibt sich doch Deutschland über seine eigne Stellung in der Welt hin! Dasselbe haben sie in den Kriegsjahren getan, sie sind damit elend hereingefallen – sie haben nichts dazu gelernt.
Diese Reparationsfibel hat viele schöne Empfehlungen auf den Weg mitbekommen. Die Mittel, deren sich diese Propaganda bedient, sind so kindlich, so dumm, so weltenweit von der Denkungsart der Völker entfernt, an die sie sich wendet … aber das macht nichts.
Doktor Schieck, sächsischer Ministerpräsident: »Ich bin der Überzeugung, dass die anschauliche Darstellung dazu beitragen wird, den Widersinn der Reparationszahlungen auch dem Auslande vor Augen zu führen.« Seeckt: » … ganz außerordentlich wirkungsvoll.« Geheimrat Kümmel, ein Arzt: » … ein zweifellos großes Verdienst … « (Muß heißen: »ein zweifellos großer Verdienst«). Westarp: » … für besonders wirksam … « Reichsbankpräsident Doktor Luther: » … in eindringlicher und klarer Weise die die ganze Welt schädigende Wirkung der Reparationen … « Generaldirektor Amsinck, Hamburg-Südamerikanische Dampfschiffahrts-Gesellschaft: »Ich kann nur hoffen … « Und, damit auch dies nicht fehlt, Walter von Molo: »Die Verbreitung dieser Fibel ist Menschenpflicht und drum auch echt deutsche Pflicht … « Na gewiß doch.
Und man fragt sich: Wo leben eigentlich alle diese? Auf dem Mond. Aber sie gleichen einer Prozeßpartei, die sich an den Schriftsätzen des eignen Anwalts delektiert. Der Richter durchfliegt sie vielleicht, und Wirkung haben sie gar keine.
Gelogen, dass Versailles an allem schuld sei. Gelogen, dass die übrige Welt andre als egoistische und kapitalistische Interessen an Deutschland habe – und diese Interessen sind noch nicht ein Zehntel so groß wie Deutschland glaubt. Gelogen, dass diese faule Kriegspropaganda irgend etwas für Deutschland bewirkt.
Und das führt. Und das gibt den Ton an. Und das entscheidet über die Gewinnverteilung. Begeistert umbrüllt von den Bürgersöhnen, die ihren Kohlrübentatendrang an Juden auslassen oder an Arbeitern und in den Straßen der Universitätsstädte einen Krieg führen, den zu führen ihnen draußen verwehrt ist.
Reparationsfibel ist ein gutes Wort. Das Zeug ist gut genug für kleine Kinder. Das Ausland aber liest es nicht, und Deutschland ist keine Klippschule.
Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist die auf eine oppositionelle, radikale und politisch klar denkende Jugend. Die Alten aber werden noch im Sarg murmeln:
Entlassungen. Herabsetzung der Löhne. Zu hohe Soziallasten. Versailles.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 01.09.1931, Nr. 35, S. 328.