Werke des Geschmacks. Werke der Kunst. Aus den von uns angenommenen Begriffen über das Wesen und die Bestimmung der schönen Künste, muss auch der Begriff eines vollkommenen Werks der Kunst hergeleitet werden. Ein Werk also, das den Namen eines Werks der schönen Kunst behaupten soll, muss uns einen Gegenstand, der seiner Natur nach einen vorteilhaften Einfluss auf unsere Vorstellungskraft oder auf unsere Neigungen hat, so darstellen, dass er einen lebhaften Eindruck auf uns mache. Demnach gehören zu einem Werke des Geschmacks zwei Dinge; eine Materie oder ein Stoff von gewissen inneren Wert und eine lebhafte Darstellung desselben. Der Stoff selbst liegt außer der Kunst; seine Darstellung aber ist ihre Wirkung: jener ist die Seele des Werks, diese macht ihren Körper aus. Nicht die Erfindung, sondern die Darstellung des Stoffs, ist das eigentliche Werk der Kunst. Durch die Wahl des Stoffs zeigt sich der Künstler als einen verständigen und rechtschaffenen Mann, durch seine Darstellung als einen Künstler. Bei Beurteilung eines Werks der Kunst, müssen wir also zuerst auf den Stoff, und danach auf seine Darstellung sehen. Dieser Artikel hat die Festsetzung der allgemeinen Grundsätze, nach welchen ein Werk in Ansehung dieser beiden Punkte zu beurteilen ist, zur Absicht.
1. Hier ist also zuerst die Frage, wie der Stoff, den der Künstler zu bearbeiten sich vornimmt, müsse beschaffen sein. Nach unseren Grundsätzen muss er einen vorteilhaften Einfluss auf die Vorstellungskraft oder auf die Neigungen haben. Dieses kann nicht anders geschehen, als wenn er unser Wohlgefallen, an Vollkommenheit, Schönheit und Güte befördert oder nährt und unterhält. Hat der Stoff schon in seiner Natur, ehe die Kunst ihn bearbeitet, diese Kraft, so hat er die Wahrheit oder Realität, die bei jedem Werke der Kunst muss zum Grund gelegt werden.1 Wählt der Künstler einen Gegenstand, der keine von diesen Kräften hat; stellt er das nicht Vollkommene, nicht Schöne, nicht Gute als vollkommen, schön und gut vor; so ist er ein Sophist; sein Werk wird ein Hirngespinst, ein Körper von Nebel, der nur die äußere Form eines wahrhaften Werks von Geschmack hat. Anstatt unsere Neigung zum Vollkommenen, Schönen und Guten zu nähren und zu bestärken, zielt es darauf ab, uns leichtsinnig zu machen und uns dahin zu bringen, dass wir uns an dem Schein begnügen. Wie die alten Philosophen aus der Schule der Eristiker durch ihre subtilen Vernunftschlüsse, ihre Schüler nicht zu gründlichen Forschern der Wahrheit, sondern zu Zänkern machten; so macht ein solcher Künstler die Liebhaber, für die er arbeitet, zu eingebildeten, windigen Virtuosen, die nie auf das Innere der Sachen sehen, wenn nur das Äussere da ist.
Es ist um so viel wichtiger, dass der Künstler die wahre Realität seines Gegenstandes mit Ernst suche, da der Schaden der aus der frevelhaften Anwendung der Kunst entsteht, höchst wichtig ist. Ein Volk, das durch sophistische Künstler verleitet worden, sich an dem Schein zu begnügen, verliert eben dadurch den glücklichen Hang nach der Realität, den die schönen Künste vermehren sollten. Ein angenehmer Schwätzer wird für einen Lehrer des Volks, ein artiger Narr oder Bösewicht, wird für einen Mann von Verdienst angesehen. Wären die Werke des Geschmacks der ehemaligen Künstler in Sybaris bis auf uns gekommen; so würden wir vermutlich darin den Grund finden, warum ein Koch oder eine Puzmacherin bei diesem Volk höher geschätzt worden als ein Philosoph. Ich kenne keine freventlichere, verächtlichere Geschöpfe als gewisse Kunstliebhaber sind, die mit Entzücken von Werken des Geschmacks sprechen, die nichts als Kunst sind; die ein Gemälde von Teiniers, bloß wegen der Kunst, den unsterblichen Werken eines Raphaels vorziehen. Sie sind Virtuosen, wie jener Narr bei Liscov durch seine Abhandlung über eine gefrorne Fensterscheibe sich als einen Philosophen gezeigt hat. Also wird die Kunst allein, wenn sie in der Wahl des Stoffs von Vernunft verlassen ist, höchst schädlich; weil sie Wohlgefallen an eitelen und unnützen Gegenständen erweckt.
Es ist eine eitele Verteidigung solcher Kunstwerke, dass man sagt, sie dienen zum Vergnügen und zu angenehmen Zeitvertreib. Der Grund hätte seine Richtigkeit, wenn dieser angenehme Zeitvertreib nicht eben so gut durch Werke von wahrem Stoff, könnte erreicht werden. Darin besteht eben die Wichtigkeit der Kunst, dass sie uns an nützlichen Dingen Vergnügen finden lässt. Wer unsere Meinung über den Wert der Kunstwerke von schimärischem Stoff übertrieben findet, dem antworten wir mit dem Quintilian: Sollten wir das Landgut für schöner halten, wo wir lauter Lilien und Violen und ergötzende Wasserkünste sehen als das, das uns Reichtum von Feldfrüchten und mit Trauben beladene Weinreben zeigt? Sollten wir den unfruchtbaren Platanus und schön geschnittene Myrten, den mit Weinreben prangenden Ulmen und dem fruchtbaren Ölbaum vorziehen?2
Man kann die Werke der Kunst in Ansehung des Stoffes in drei Klassen abteilen. Er ist nämlich 1. ergötzend oder unterhaltend; 2. lehrend oder unterrichtend; 3. rührend oder bewegend. Von diesen ist der Ergötzende am Wert der geringste; doch deswegen nicht verächtlich. Er ist nicht bloß darum schätzbar, dass er, wie Cicero in Rücksicht auf die redenden Künste bemerkt, gleichsam das Fundament der Kunst ist,3 sondern auch deswegen, weil jedes Vergnügen, das auf wahre Vollkommenheit und Schönheit gegründet ist, seinen wahren inneren Wert hat, indem es unsere Lust an dem Vollkommenen und Schönen unterhält: der lehrende Stoff scheint der Wichtigste; weil Kenntnis oder Aufklärung das höchste Gut ist: der rührende gefällt am durchgängigsten und scheint in der Behandlung der leichteste.
Wer ein Werk des Geschmacks in Absicht auf seinen Stoff beurteilen will, darf nur, nachdem er es mit hinlänglicher Aufmerksamkeit betrachtet, auf den Gemütszustand Acht haben, in den es ihn versetzt hat. Fühlt er sich von irgend etwas, das vollkommen oder schön oder gut ist, stärker gereizt als vorher; empfindet er einen neuen, ungewöhnlichen Schwung etwas Gutes zu suchen oder sich etwas Bösem zu wiedersetzen; hat er irgend einen wichtigen Begriff, irgend eine große, edle, erhabene Vorstellung, die er vorher nicht gehabt; oder fühlt er die Kraft einer solchen Vorstellung lebhafter als vorher; so kann er versichert sein, dass das Werk in Ansehung des Stoffs lobenswert ist.
2. Nach dem Stoff kommt die Darstellung desselben in Betrachtung, wodurch das Werk eigentlich zum Werke des Geschmacks wird. Sie erfordert eine Behandlung des Stoffs, wodurch er sich der Vorstellungskraft lebhaft einprägt und in dauerhaften Andenken bleibt. Beides setzt voraus, dass das Werk die Aufmerksamkeit stark reizen und durchaus unterhalten müsse. Denn die Lebhaftigkeit des Eindrucks, den ein Gegenstand auf uns macht, ist allgemein dem Grad der Aufmerksamkeit, mit dem er gefasst wird, angemessen. Das Werk muss demnach sowohl im Ganzen als in einzelnen Teilen uns mit unwiederstehlicher Macht gleichsam zwingen, uns seinen Eindrücken zu überlassen. Darum muss weder im Ganzen, noch in den einzelnen Teilen nicht nur nichts anstößiges oder widriges sein, sondern alles muss Ordnung, Richtigkeit, Klarheit, Lebhaftigkeit und kurz jede Eigenschaft haben, wodurch die Vorstellungskraft vorzüglich gereizt wird. Es muss ein einfaches, leicht zu fassendes, unzertrennliches und vollständiges Ganzes ausmachen, dessen Teile natürlichen Zusammenhang und vollkommene Harmonie haben. Man muss bald sehen oder merken, was es sein soll; weil die Ungewissheit über diesen Punkt der Aufmerksamkeit gefährlich wird. Je bestimmter man den Hauptinhalt ins Auge fasst und je ununterbrochener die Aufmerksamkeit von Anfang bis zum Ende unterhalten wird, je vollkommener ist das Werk in Absicht auf die Darstellung.
Dieses sind allgemeine Foderungen, die aus der Natur der Sache selbst fließen; und gar nichts willkürliches haben. Für welches Volk, für welches Weltalter, ein Werk gemacht sei; muss es doch die erwähnten Eigenschaften haben. Außer dem muss auch die Kritik nichts fordern und dem Künstler weder in Ansehung der Form, noch in Rücksicht auf das besondere der Behandlung, Gesetze vorschreiben. Tut er jenen Fodrungen genug, so hat ihm über die besondere Art, wie er es tut, Niemand etwas vorzuschreiben. Jedes Volk und jedes Zeitalter hat seine Moden und seinen besonderen Geschmack in dem Zufälligen und der Künstler tut wohl, wenn er ihm folgt. Aber dieses Zufällige lässt sich nicht durch Regeln festsetzen. Wie man von einem Kleide als notwendige Eigenschaften fordern kann, dass es die Teile, die einer Bedekung bedürfen, bedecke, dass es commode sei und gut sitze, übrigens aber keine Art der Kleidung, die diese Eigenschaften hat, verwerflich ist, sie sei französisch, englisch oder polnisch; so muss man es auch mit den Werken des Geschmacks halten. Ein Gemälde kann in seiner Art vollkommen sein, ob es in Wasserfarben oder mit Ölfarben gemalt sei; und eine Ode kann eine hebräische oder griechische Form haben und in der einen so gut als in der anderen vortreflich sein.
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1 S. Wahrheit.
2 An ego fundum cultiorem putem, in quo mihi quis ostenderit lilia et violas et amœnos fontes surgentes, quam ubi plena messis, aut graves fructu vites erunt? Sterilem platanum, tonsasque myrtos, quam maritam ulmum et uberes oleas præ optaverim? Quint. Inst. L. VIII. c. 3.
3 Ejus totius generis quod græce e ’..de..e.... nominatur, quod quasi ad inspiciendum, delectationis causa comparatum est, (formam) non complectar hoc tempore: non quod negligenda sit; est enim illa quasi nutrix ejus oratoris, quem informare volumus. Cic. Orator.