Wunderbar

Wunderbar. (Dichtkunst) Ist eigentlich nach dem gemeinen Sprachgebrauch alles, was Bewunderung erweckt oder verdient. Doch scheint das Wunderbare, das allgemein für den höchsten poetischen Stoff gehalten wird und was man in der hohen Epopöe anzutreffen gewohnt ist, von einer besonderen und vorzüglichen Art zu sein. Wir bewundern alles, was unsere Erwartung und unsere Begriffe oder das gemeine Maß, nach welchem wir die Dinge schätzen oder für die Aufmerksamkeit abwägen, merklich übertrifft. Jedes ungewöhnliche Talent; jede Tugend und jedes Laster, dessen Größe weit über die gemeinen Schranken geht kurz jedes Außerordentliche in der körperlichen oder sittlichen Welt, erweckt Bewunderung; aber deswegen wird nicht jedes Außerordentliche zu dem Wunderbaren gerechnet, wovon hier die Rede ist.

 Einige Kunstrichter scheinen dieses Wunderbare bloß in dem Übernatürlichen zu setzen, das durch wirkliche Wunderwerke der Allmacht geschieht. Aber dadurch schränken sie diesen Begriff zu eng ein. Auch natürliche Dinge, können so außerordentlich und so sehr über unsere Erwartungen sein, dass man sie zum Wunderbaren rechnet. Miltons Himmel und Hölle und die unermesslichen ätherischen Weltgegenden, die Klopstocks reiche Phantasie erschaffen hat, scheinen zu dem ächten Wunderbaren zu gehören.

 Wir würden außer diesem auch noch das zum Wunderbaren rechnen, was uns Gegenstände schildert, die zu der wirklichen Welt oder Natur gehören oder zu gehören scheinen, aber so völlig unerwartet und ausserordentlich sind, dass sie uns die Natur in einer zwar nicht widersprechenden, aber völlig neuen, außerordentlichen und höheren Gestalt zeigen und dadurch die Bewunderung hervorbringen, von der wir in einem eigenen Artikel gesprochen haben. Was zwar die Begriffe, die wir von der Welt und dem Lauf der Natur haben, nicht geradezu aufhebt, aber sie sehr weit übertrifft. Denn so außerordentlich und ungewöhnlich auch die Dinge sind, die man uns erzählt oder beschreibt, so setzen sie uns nicht in Bewunderung, wann wir gar keine Wahrheit oder natürliche Möglichkeit darin entdecken. Die Aufschneidereien, dergleichen in Lucians wahrhafter Geschichte vorkommen und die unseren Begriffen ganz widersprechenden Erdichtungen in Holbergs unterirrdischen Reisen, werden schwerlich von jemand zu dem Wunderbaren gezählt werden, wodurch der epische Dichter seinen Stoff erhöhen könnte. Wir bemerken gleich, dass sie völlig willkürlich und gar nicht im Ernste gemeint sind. Es kostet der Einbildungskraft nichts, dergleichen Außerordentliche Dinge zu erfinden, die gar keine Beziehung oder Verbindung mit der wirklichen Welt haben. Aber höchst außerordentliche Nachrichten oder Dichtungen, die noch Realität oder Wahrheit zum Grund haben, die sich mit der wirklichen Natur vortragen, aber unsere Erwartungen sehr weit übertreffen, die bei allem Außerordentlichen, das sie haben, möglich und einigermaßen wahrscheinlich sind, setzen uns in Bewunderung. Wunderbar wäre für Unwissende, eine wahrhafte Beschreibung der unermesslichen Größe und höchst ordentlichen Einrichtung des Weltgebäudes, die den großen Begriffen gemäß wäre, die die Astronomen davon haben. Wunderbar, wiewohl aus natürlichen und vorhandenen Ursachen begreiflich, ist die Sündfluth, wie sie in der Noachide beschrieben ist. Wunderbar wäre auch für die Einwohner eines ebenen und anmutigen Landes, die wahrhafteste Schilderung der Länder, die aus aufgetürmten Alpen bestehen.

  Eben darum, weil das ächte Wunderbare, so außerordentlich es ist, sich noch mit unseren Begriffen vertragen und noch Wahrscheinlichkeit behalten muss, ist es schwer zu erweichen, obgleich jede wilde Phantasie an außerordentlichen Vorstellungen reich ist. Die Einbildungskraft allein ist zur Erfindung des Wunderbaren nicht hinreichend, sie muss von Kenntnis der wirklichen, körperlichen und sittlichen Welt und von guter Urteilskraft unterstützt werden, sonst werden ihre außerordentlichen Vorstellungen schimärisch, ausschweifend und abgeschmackt. Wie ausgebreiteter die Kenntnis ist, die der Dichter von der wirklichen Natur hat, so viel leichter wird ihm, wenn es ihm sonst nicht an Erfindung und Dichtungskraft fehlet, die Schöpfung des Wunderbaren. Wenn er schon mehr als die, für die er arbeitet, weiß; wenn er tiefer als sie in die körperliche und geistliche Welt hineinschaut, so gibt ihm dieses Gelegenheit, seine Vorstellungen noch mehr zu erhöhen und sie bis ins Wunderbare zu treiben. Hätte Klopstock so wenig von der unermesslichen Größe des Weltgebäudes gewußt als Homer und hätte er von der Gottheit so eingeschränkte Begriffe gehabt, wie der griechische Barde, so würde ein großer Teil des Wunderbaren in seinem Messias weggeblieben sein. Der Dichter, dessen Kenntnisse schon weiter reichen als die allgemeinen Kenntnisse seiner Zeit, der eben dadurch Gelegenheit gehabt hat, die höhere Wollust des Geistes, die Bewunderung zu fühlen, wird dadurch angereizt und auch in Stand gesetzt, andere durch das Wunderbare zu rühren.

 Wir finden deswegen das Wunderbare weit seltener in Oßians Gedichten als in den anderen uns bekannten Epopöen; denn der Barde lebte unter einem durchaus unwissenden Volke und seine Kenntnisse erstreckten sich eben nicht merklich weiter als die allgemeinen Kenntnisse seiner Zeit gingen. Er fand in dem, was er mehr wissen mochte als das Volk unter dem er lebte, wenig Veranlassung, seine Vorstellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber Homer scheint ungleich mehr Kenntnisse der körperlichen und sittlichen Welt gehabt zu haben als die, für die er seine Gesänge dichtete. Er scheint viel fremde, in seinem Lande noch verborgene Kenntnisse gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf, sie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, deren Erfindung ihm seine Kenntnis erleichterte, seine Zuhörer in Bewunderung zu setzen. Es erhellt hieraus, dass die bloß körperliche Natur eben sowohl als die unsichtbare Geisterwelt, auf Erfindung des Wunderbaren führt. Denn jede unerwartete und sehr erhöhte Kenntnis, des Möglichen oder Wirklichen aus beiden Welten, setzt uns in Bewunderung.

  Das Wunderbare ist eine der vorzüglichsten ästhetischen Eigenschaften. Es hat einen großen Reiz für die Gemüter der Menschen, die es mit ungemeiner Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merklicher Grad der Wahrscheinlichkeit dazu, so sind sie sehr geneigt, das Erdichtete für Wahr zu halten. Darum ist es ein sehr kräftiges Mittel sowohl auf die Vorstellungskraft als auf die Empfindung zu wirken. Der Hang zum Außerordentlichen ist so stark bei dem Menschen, dass er es nicht nur mit dem größten Wohlgefallen anhört, sondern in der Trunkenheit der Bewunderung sich auch willig dahin leiten lässt, wohin man ihn führen will.

 Wenn aber das Wunderbare seine Wirkung tun soll, so muss es, wie wir schon angemerkt haben, glaubwürdig und auch begreiflich sein, damit man es nicht so gleich verwerfe. Deswegen muss der Dichter dabei genaue Rücksicht auf die Kenntnisse der Personen, für die er dichtet nehmen. Kindern und einem Volke, dessen Zustand in Absicht auf Kenntnisse mit der Kindheit übereinkommt, kann die äsopische Fabel gar wohl durch das Wunderbare der vernünftig denkenden und redenden Tiere gefallen: uns sind diese Tiere nichts Wunderbares; wir wissen es, dass es der Dichter in diesem Stück nicht im Ernste meinet. So ist beim Homer manches, dass zu seiner Zeit ein ächtes Wunderbares war, für uns nichts, wenn wir uns nicht in seine Zeit versetzen. Man kann gegenwärtig das Wunderbare das aus der alten Götterlehre geschöpft wird, so wenig mehr brauchen als das, was sich auf das System der Gnomen und Silphen gründet. Aber es war eine Zeit und bei vielen unwissenden Völkern ist sie noch, da wahres und ächtes Wunderbares daraus konnte genommen werden.

 Hingegen würde manches Wunderbare, in dem Messias, das uns in angenehmes Erstaunen setzt, bei einem ganz unwissenden Volke seiner völligen Unbegreiflichkeit halber nicht die geringste Wirkung tun. Unsre Begriffe und Kenntnisse von dem herrlichen Bau der Welt, die wir den Entdeckungen der Astronomen zu danken haben und die schon an sich Wunderbar sind, erleichtern das Begreifen der erstaunlichen Vorstellungen des Dichters, die bei keinem ganz unwissenden Volk Eindruck machen könnten.

 


 © textlog.de 2004 • 22.11.2024 14:46:54 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z