Wahrscheinlichkeit. (Schöne Künste) Das Wahre ist für die Vorstellungskraft, was das Gute für die Begehrungskraft ist. Wie wir nichts begehren können als insofern wir es für gut halten, so können wir auch in die Masse unserer Vorstellungen nichts aufnehmen als was wahr scheint. Darum ist Wahrscheinlichkeit in dem, was die Werke der Kunst uns vorstellen, eine wesentliche Eigenschaft. Es ist nicht genug, dass das, was der Künstler uns sagt oder vorstellt, wahr oder in der Natur vorhanden sei, wir müssen es auch für etwas wirkliches oder mögliches oder glaubwürdiges halten; denn sonst wenden wir gleich die Aufmerksamkeit davon ab als von einem Gegenstand, den wir weder fassen, noch für wirklich halten können.
Darum soll die erste Sorge des Künstlers darauf gerichtet sein, dass der Gegenstand, den er uns vorzeichnet, wahrscheinlich sei, dass wir ihn für etwas gedenkbares oder wirkliches halten. Diese Wahrscheinlichkeit ist im Grunde nichts anders als die Möglichkeit oder Gedenkbarkeit der Sache. Es kann dem Künstler gleichgültig sein, ob der Gegenstand, den er schildert, in der Natur wirklich vorhanden sei oder nicht; ob das, was er erzählt wirklich geschehen sei oder nicht. Es ist nicht seine Absicht uns von dem, was vorhanden oder geschehen ist, zu unterrichten; sondern die Vorstellungskraft oder die Empfindung lebhaft zu rühren. Ist das, was er uns vorstellt, nur gedenkbar, nur möglich, so kann er unbekümmert sein, ob es auch in der Natur irgendwo vorhanden sei. Ein paar Beispiele werden hinlänglich sein, uns eines mühesamen Beweises, dass in den Künsten, das Mögliche, die Stelle des Wirklichen vertreten könne, zu überheben. Der unmittelbare Zweck des Künstlers ist allemal entweder die Vorstellungskraft oder die Empfindung lebhaft zu rühren. Hierzu ist das Mögliche eben so schicklich als das Wirkliche. Klopstock will uns einen sehr lebhaften Begriff von der Gemütslage geben, in der sich
– – Wie tief in der Feldschlacht Sterbend ein Gottesläugner sich wälzt; u.s.w.1
Hier ist es völlig gleichgültig, ob jemals ein solcher Fall wirklich vorgekommen sei oder nicht; genug, dass das Bild gedenkbar und passend ist. Wäre nie ein Atheist in der Welt gewesen oder wäre nie einer in diesen Umständen umgekommen, so dient dennoch das Bild, da wir es uns lebhaft vorstellen können, um das Gegenbild mit großer Lebhaftigkeit darin zu erblicken. Zum Zweck des Dichters war Möglichkeit und Wirklichkeit völlig einerlei. Eben so verhält es sich, wenn Empfindungen zu erwecken sind. Ob ein solcher Mann wie Homer den Ulysses schildert, in der Welt vorhanden sei oder nicht; genug, dass wir uns ihn vorstellen können; die bloße Vorstellung ist hinlänglich, unsere Bewunderung zu erwecken.2 Also können durch das bloß Mögliche Vorstellungskraft und Empfindung eben so lebhaft als durch das Wirkliche gerührt werden. Das Erdichtete ist so gar oft weit schicklicher als das Wirkliche; denn oft ist dieses wegen Mangel einiger Umstände, die darin verborgen bleiben, nicht gedenkbar. Es geschehen bisweilen Dinge, die unmöglich scheinen, da man seinen eigenen Augen nicht traut, wo eine Wirkung ohne Ursache scheint. Dergleichen Dinge, wenn sie auch noch so gewiss wären, nimmt die Vorstellungskraft ungern an. Darauf gründet sich die Vorschrift des Aristoteles, dass der Künstler oft das erdichtete Wahrscheinliche, dem wirklich Wahren, aber Unwahrscheinlichen vorziehen soll.
Der Künstler hat demnach, ohne den mühesamen Untersuchungen, die der Philosoph und der Geschichtschreiber notwendig vornehmen müssen, wenn sie die Wahrheit finden wollen, nötig zu haben, nur diese einfache Regel zu beobachten: dass alles was er vorstellt, in der Art, wie er vorstellt, wirklich gedenkbar sei. Er darf nur darauf Acht haben, dass in den Dingen, die er als vorhanden vorstellt, nichts widersprechendes und in dem, was er als geschehen beschreibt, nichts ungegründetes vorkomme. Es ist aber nicht genug, dass die Sachen ihm selbst gedenkbar seien, sie müssen es auch für die sein, für die er arbeitet. Deswegen muss in der Darstellung der Sachen keine wesentliche Lücke bleiben. Man kann eine wirklich vorhandene oder eine geschehene Sache, die man selbst gesehen hat, folglich nicht nur als möglich, sondern auch als wirklich begreift, so beschreiben, dass es anderen unmöglich fällt, sie sich vorzustellen. Dieses geschieht, wenn man aus Unachtsamkeit in der Beschreibung oder Erzählung einige wesentliche Dinge weglässt, die man doch dabei gedacht hat; oder wenn die Worte und andere Zeichen, deren man sich bedient, etwas anderes ausdrücken als wir haben ausdrücken wollen. Darum ist es notwendig, dass der Künstler, nachdem er sein Werk entworfen hat, es danach mit kalter Überlegung betrachte, um zu entdecken, ob kein zur Faßlichkeit oder Glaubwürdigkeit nötiger Umstand übergangen worden und ob er jedes einzelne wirklich so ausgedrückt habe, wie er es gedacht hat.
Man sollte denken, dass kein verständiger Mensch und ein Künstler, muss doch notwendig ein solcher sein, etwas vortragen oder schildern werde, das er selbst nicht begreift oder das so, wie er es vorträgt, nicht begreiflich ist. Es scheint demnach ganz unnötig zu sein, dem Künstler weitläufig von der Beobachtung des Wahrscheinlichen zu sagen, das so leicht zu beurteilen ist. Da es aber auch dem verständigsten Künstler aus mehr als einer Ursache begegnen kann, dass er unwahrscheinliche Dinge vorträgt, so scheint es uns wichtig genug, dass wir vier Hauptquellen dieses Fehlers anzeigen.
1. In der Hize der Arbeit versäumet man gar oft, gewisse Dinge zu bemerken, wodurch eine Sache unmöglich oder unwahrscheinlich wird und man glaubt etwas zu begreiffen, das andere nicht annehmen können; weil ihnen Zweifel dagegen entstehen, die der Künstler in der Hize der Einbildungskraft, übersehen hat. Wir finden beim Plautus gar oft, dass Sklaven ihre Herren auf eine völlig unwahrscheinliche Art betrügen; und es ist uns unmöglich die Aufführung dieser Leute zu begreiffen. Denn da es ihnen notwendig das Leben kosten müsste, wenn der Betrug an den Tag käme, dabei aber nicht die geringste Wahrscheinlichkeit oder Vermutung vorhanden ist, dass er verborgen bleiben könne, so lässt sich auch nicht gedenken, dass diese Leute sich so unbesonnen der augenscheinlichen Gefahr gehenkt oder gekreuziget zu werden, bloß stellen sollten, wie doch wirklich geschieht. Der Dichter hatte schon einen außerordentlichen Fall, wodurch der Betrug verborgen bleiben sollte, sich vorgestellt und die ganze Intrige kam ihm so komisch und so sehr unterhaltend vor, dass er versäumt hat, die Überlegung zu machen, dass der Sklave ganz unnatürliche und unglaubliche Dinge tue. Kein Mensch wird so unsinnig sein, einen anderen, dessen Gewalt man unterworfen ist, auf das ärgste zu beleidigen, in Hoffnung, dass ein Wetterstrahl ihn tödten werde, ehe er Zeit habe, die Beleidigung zu rächen. Und doch handeln die Sklaven in den Komödien des Plautus nicht selten so; und dadurch wird die ganze Verwicklung oft völlig unwahr. Eben so unwahrscheinlich ist es, dass jemand sich in eine gefährliche Unternehmung einlasse, der nur ein plötzlicher, höchst ungewöhnlicher Zufall, einen guten Ausgang geben könnte. Darum merkt Daubignac wohl an, dass ein plötzlicher Tod durch einen Schlagfluss oder Wetterstral, so möglich auch der Fall ist, ein schlechtes Mittel wäre, die Verwicklung des Drama aufzulösen. Aber in der Hize der Arbeit denkt der Dichter nicht allemal an diese Bedenklichkeiten. Eben so ist es gar nicht ungewöhnlich, dass Maler solche Fehler gegen die Perspektive begehen, dadurch ihre Vorstellung völlig unmöglich wird. Sie haben in der Hize der Arbeit vergessen, die Wahrheit der Zeichnung in Rücksicht auf die Perspektive zu untersuchen. Deswegen ist kaltes Prüfen eines entworfenen Planes eine notwendige Sache.
2. Oft verwechselt man die Zeichen, wodurch man seine Gedanken ausdrückt, glaubt etwas auszudrücken, das man wirklich sehr klar und bestimmt denkt und drückt doch etwas anders aus: Ich erinnere mich, dass einem sonst ganz verständigen Manne, bei einer im Frühjahre lang anhaltenden Dürre, die Worte entfuhren: Wenn uns doch der Himmel bald mit einem warmen, trokenen Regen erfreuen wollte! Er dachte etwas Wirkliches und Wahres; sagte aber etwas Unmögliches und Ungereimtes. Dieses kann auch jedem Künstler in der Wärme der Empfindung begegnen. Darum ist es nicht genug, dass unsere Gedanken oder Vorstellungen der Wahrheit gemäß seien; wir müssen auch versichert sein, dass wir gerade das ausgedrückt haben, was wir dachten. Und der Künstler hat sorgfältig zu untersuchen, ob auch andere bei Betrachtung seines Werks das denken oder empfinden werden, was er dabei gedacht und empfunden hat.
3. Der Künstler drückt nie alles aus, was er sich bei der Sache vorstellt. Geschiehet es, dass er etwas wesentliches oder etwas, wodurch die ganze Vorstellung begreiflich wird, weglässt, so hat er etwas wahres gedacht und stellt uns etwas, das wir nicht annehmen, nicht für wahr halten können, vor. Oft wird eine ganze Handlung durch einen einzigen kleinen Umstand wahrscheinlich; wird dieser aus Versehen, weggelassen, so verwerffen wir die ganze Erzählung davon als etwas falsches. Darum muss der Künstler sorgfältig untersuchen, ob er auch von allem, was er bei Schilderung der Sache gedacht hat, nichts Wesentliches weggelassen habe. Was wir leichte von selbst zur Wahrscheinlichkeit hinzudenken können, kann er ohne Bedenken weglassen; aber wo ein nicht zu erratender Umstand, zur Glaubwürdigkeit der Sache notwendig ist, da muss er ausdrücklich angeführt werden. Ein in den Sitten und in der Staatsverfassung der Römer unerfahrner Leser des Livius oder Tacitus, wird manche wahrhafte Erzählung dieser Geschichtschreiber als unglaublich verwerfen. Diese Männer schrieben für Leser, denen das, was zur Glaubwürdigkeit solcher Erzählungen notwendig ist, völlig bekannt war; darum hatten sie nicht nötig, dieser Dinge zu erwähnen.
Dinge, die an sich, wenn man Zeit und Ort und andre Nebenumstände nicht in Betrachtung ziehet, unglaublich sind, werden ganz begreiflich, wenn man jene zufällige Dinge dabei vor Augen hat. Nun geht es nicht allemal an, dieser Dinge da, wo sie zur Glaubwürdigkeit notwendig sind, zu erwähnen; und in diesem Falle müssen sie vorher, an einem schicklichen Orte ausdrücklich angeführt oder doch durch Winke angedeutet werden. Ist etwas ausserordentliches, das ein Mensch tut, aus den Umständen der Sache selbst unbegreiflich, so kann der Grund in etwas das vorhergegangen ist oder in dem ganz besonderen und seltenen Charakter der Person liegen. In solchen Fällen muss man vorher, ehe der Sach' erwähnt wird, auf eine schickliche Weise, das was zur Begreiflichkeit der Sache dient, irgendwo einmischen und so die Glaubwürdigkeit der Sache vorbereiten. In einem Trauerspiel retten sich zwei Personen durch Schwimmen aus einem Schiffbruch; die eine frägt die andere, ob sie auch ihre Schätze gerettet habe: ja; antwortet sie, da sie nur in Juweelen bestehen, so hab ich sie in Busen gesteckt. Durch Erwähnung der Juweelen wollte der Dichter die Rettung des Schazes begreiflich machen. Aber er hätte dieses Umstandes eher, an einem schicklichern Orte und überhaupt auf eine natürliche Weise erwähnen sollen. Denn so, wie er es hier tut, ist die Sache völlig unnatürlich.
Wenn die Erzählung oder Vorstellung einer Handlung in völliger Wahrscheinlichkeit erscheinen soll, so muss man die Veranlassung, die Charaktere der Personen, das Interesse jeder derselben und überhaupt alles, was als wirkende Ursache dabei sein kann, genau kennen. Der epische Dichter kann uns gar leicht und schicklich von allen diesen Dingen unterrichten, aber dem dramatischen wird dieses oft sehr schwer. Daher entstehen die wichtigsten Fehler gegen die Wahrscheinlichkeit. Es ist höchst anstößig, wenn Personen, die in wichtigen Angelegenheiten handeln, Reden in den Mund gelegt werden, die bloß für den Zuschauer dienen. Denn sie führen den offenbaresten Widerspruch mit sich; wir sollen einen Menschen für den Orestes oder Agamemnon halten und seine Reden verraten einen Schauspieler! Man lasse lieber den Zuschauer in einigem Zweifel über die Gründe und Ursachen dessen, was er sieht oder hört als dass man auf eine so sehr unschickliche Weise, die Zweifel hebt. Man muss sich durch die Sorge wahrscheinlich zu sein, nicht zu der größten Unwahrscheinlichkeit verleiten lassen. Der Dichter muss dem Zuschauer zutrauen, dass er verschiedenes von selbst einsehen und begreiffen werde. Verschiedene dramatische Dichter beweisen darin eine so übertriebene Sorgfalt, dass sie gar oft, wenn eine neue Szene bevorsteht, auf die unnatürlichste Weise uns durch die handelnden Personen sagen lassen, wer der sei, der nun erscheinen wird.
4. Mangel an Erfahrung und Kenntnis der Welt, ist auch eine der Quellen des Unwahrscheinlichen. Eine bloß philosophische oder psychologische Kenntnis des Menschen, ist nicht hinreichend Personen von allerlei Stand und Lebensart nach ihrer besonderen Art zu denken und zu handeln, natürlich zu schildern. Keine Theorie ist dazu hinreichend. Nur durch langen Umgang mit solchen Menschen gelangt man dazu. Jeder Stand, jedes Land, jedes Zeitalter hat seine eigene Begriffe, Vorurteile, Maximen und Handlungsart; Wer sie nicht genau kennt, muss notwendig in manchem Stück unwahrscheinlich werden.
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1 Messias IV. Ges.
2 S. Täuschung