Wahrheit

Wahrheit. (Schöne Künste) Ist Richtigkeit unserer Vorstellungen. Diese sind wahr, wenn das, was wir für möglich oder wirklich halten, in der Tat so ist; falsch und irrig sind sie, wenn das, was wir für möglich oder wirklich halten, es nicht oder nicht in der Art ist, wie wir es uns vorstellen. Wahrheit ist also Vollkommenheit, Irrtum Unvollkommenheit unserer Erkenntnis: durch jene bekommen unsere Begriffe, Gedanken und Urteile die Realität, Wirklichkeit oder Währung1, die den Probierstein aushalten; durch diesen sind sie schimärisch, eingebildet, ungegründet oder gar widersprechend. Wahrheit wird auch von der Vollkommenheit einer Schilderung, Abbildung oder Beschreibung gebraucht. Beide Bedeutungen kommen im Grund nur auf eine. Denn unsere Vorstellungen sind auch Abbildungen aus einer möglichen oder wirklichen Welt. Daher nennt Leibniz die Begriffe und Gedanken, Abbildungen des Zusammengesetzten in dem Einfachen.

 Ehe wir von dem Verhältnis der Wahrheit gegen die schönen Künste sprechen können, müssen wir sie in ihrem allgemeinen Verhältnis gegen den Geist betrachten. Von unseren Vorstellungen hängen die meisten, wenigstens die wichtigsten unserer Empfindungen ab und unsere Handlungen bekommen ihre Richtung von ihnen. Irrtum oder falscher Wahn erzeugt eitle, wie von leeren Phantomen verursachte Empfindungen; Vergnügen und Verdruss, die sie mit sich führen, sind vergeblich; und verloren sind die Handlungen, die von Irrtum ihre Richtung bekommen. Umsonst und eitel ist Freud und Traurigkeit, die von Aberglauben und falschem Wahn erzeugt wird, wie die Freud eines Dürftigen, der im Traume reich geworden; Handlungen und Unternehmungen, die von Irrtum geleitet werden, sind mühesame Reisen nach eingebildeten Ländern, sie führen nicht zum Zwecke. Höchst wichtig, vielleicht allein wichtig ist also die Wahrheit dem Menschen und seinem wahren inneren Interesse kann nichts mehr entgegen sein als Irrtum. Keine Wohltat ist größer als den Irrenden zurecht zu weisen; keine Missetat strafbarer als Menschen in Irrtum zu verleiten. Der Geist des Menschen kennt kein anderes Gut als Wahrheit; und Irrtum ist das einzige Übel, das ihn betreffen kann. Alles sittliche Elend hat seinen Ursprung darin.

 Weil die Wahrheit das einzige Gut des menschlichen Geistes, seine wirkliche Nahrung ist; so muss auch alles, was die schönen Künste dem Verstand und der Einbildungskraft vorlegen, auf Wahrheit gegründet sein. Der unmittelbare Zweck der schönen Künste ist Lebhaftigkeit oder Stärke der Vorstellung; durch die Bearbeitung des Künstlers bekommen unsere Vorstellungen Kraft, Leben und Wirksamkeit. Wären sie falsch oder zielten sie auf Irrtum ab; so würden sie um so viel schädlicher, je lebhafter wir sie gefasst haben. Darum macht Kenntnis und Liebe der Wahrheit eine wesentliche Eigenschaft eines rechtschaffenen Künstlers und sehr richtig urteilte jener Spartaner, der einem Sophisten, welcher sich rühmte seinen Zuhörern alles glauben zu machen, was er wollte, antwortete: Beim Himmel! es gibt keine Kunst und es wird nie eine Kunst sein, deren Grund nicht Wahrheit sei!2 Der Künstler, der die Wahrheit nicht kennt oder sie gering schätzt, ist ein desto gefährlicherer Mensch; weil das, was er uns sagt oder vorhält, starken Eindruck auf uns macht.

 Je größer die eigentlichen Kunsttalente sind, je wichtiger ist es, dass der Künstler die Wahrheit erkenne und liebe. Zwar liegt die Erforschung und Entdeckung der Wahrheit außer der Kunst; sie ist der Zweck der Philosophie; aber wichtige Wahrheiten fühlbar zu machen, ihnen eine wirkende Kraft zu geben, sie dem Geist unauslöschlich einzuprägen, dies ist die edelste Anwendung der Kunst. Es ist noch zweifelhaft, ob der Philosoph, der wichtige Wahrheiten entdeckt oder der Künstler, der sie der Menge fühlbar macht und sie zum Gebrauch ausbreitet, dem menschlichen Geschlecht einen wichtigern Dienst leiste. Die Werke der Kunst, die Irrtum, falsche Meinungen oder Vorurteile über wichtige Gegenstände begünstigen, gleichen einer äußerlich schönen und Lüsternheit erweckenden Frucht, die vergiftet ist; den Künstler aber, der seine Talente auf einen schimärischen, nicht auf Wahrheit oder Realität gegründeten Stoff verwendet; der seine Vorstellungen aus einer nicht wirklichen, sondern bloß eingebildeten Welt nimmt, und ihnen keine Beziehung auf die wirkliche gibt, können wir in keinen höheren Rang stellen als den, den wir den Dienern der Üppigkeit anweisen, die die Tafeln der Reichen mit Früchten versehen, die aus Wachs gemacht sind.

 Damit wollen wir dem Künstler den bloß erdichteten aus einer nur in seiner Phantasie vorhandenen Welt genommenen Stoff, keinesweges verbieten. Er kann uns Szenen aus einer Feenwelt schildern, kann Tiere reden lassen, kann ein Elysium und einen Tartarus, ein Paradies und eine Hölle bilden, wie es seine Phantasie verlangt; aber unter dieser äußern Schale muss Wahrheit liegen; wir müssen in dem Bilde der erdichteten Welt, die wahre sehen können. Nur der Stoff ist schimärisch und ohne Wahrheit, in dem wir nichts von der Beschaffenheit der wahren Welt erkennen; der ein bloßer Traum, ohne Deutung ist. Dieses bedarf keiner umständlichen Erklärung; denn für den Künstler, der hieraus noch nicht merken kann, was wir durch einen erdichteten, aber sich auf Wahrheit beziehenden Stoff verstehen, ist dieses Werk nicht geschrieben.

 Wahrheit muss also bei jedem Werke der Kunst zum Grunde liegen; und je wichtiger, je brauchbarer diese Wahrheit ist, je schätzbarer ist sein Stoff. Der Künstler also, der auf die Hochachtung der Welt einen Anspruch machen will, frage sich selbst, so oft er ein Werk an den Tag legt, was wirst du nun damit ausrichten? Wozu wird das, was du anderen so lebhaft in den Geist und in die Phantasie einprägest, dienen? Über welche Angelegenheit werden die Menschen nun richtiger oder wirksamer denken als vorher; welchen nützlichen Begriff werden sie sich nun lebhafter vorstellen, welche heilsame Empfindung, wird ihnen gewöhnlicher werden? Was wirst du überhaupt in den Vorstellungen der Menschen berichtiget oder aufgeklärt oder wirksam gemacht haben? Ist der Künstler ein Mann von Verstand und Kenntnis, so werden dergleichen Untersuchungen ihm über den Wert seiner Arbeiten das nötige Licht geben. Wahrheit auch ohne Rücksicht auf ihre Brauchbarkeit insofern sie Vollkommenheit der Schilderung oder Vorstellung ist, gehört zum ästhetischen Stoff; weil sie Vergnügen wirkt. Ein an sich gleichgültiger in der Natur vorhandener Gegenstand, den ein Maler nach der völligen Wahrheit geschildert hat, macht allemal Vergnügen; und es ist um so viel größer, je schwerer es ist die Wahrheit der Schildrung zu erreichen; weil dazu mehr Talent, mehr Vollkommenheit im Künstler erfordert wird. Wenn es also Vergnügen macht eine Landschaft in der völligen Wahrheit der Natur von dem Maler geschildert zu sehen und wenn das Vergnügen noch größer ist, einen lebenden Menschen, nicht bloß in seiner äußern Gestalt, sondern nach seinem Charakter und mit seinen Gedanken im Gemälde zu erblicken, so muss das größte Vergnügen daraus entstehen, wenn die redenden Künste schwere, sehr verwickelte Begriffe und schwer zu entdeckende Wahrheiten, leicht und einleuchtend darstellen; denn dazu scheinen die größten und wichtigsten Talente erfordert zu werden. Wenn wir gewisse sehr verwickelte Gegenstände der sittlichen Welt lange mit Aufmerksamkeit und Nachforschen betrachtet und untersucht haben, ohne ihre wahre Beschaffenheit erkannt zu haben oder ohne dass es uns geglückt hat, unser Urteil darüber auf eine befriedigende Weise festzusetzen; so macht es uns ein ausnehmendes Vergnügen, wenn ein tiefer denkender und glücklicher forschender Kopf uns auf einmal den Gegenstand in einem hellen und faßlichen Lichte zeigt. Kein Künstler hat es so wie der Redner und Dichter in seiner Gewalt uns durch Entdeckung oder Vortrag der Wahrheit, mit Lust und Vergnügen zu durchdringen.

Mich dünkt, dass man den Dichtern, die uns abstrakte oder spekulative Wahrheiten, deren Entdeckung selbst dem Philosophen die größte Mühe macht, sehr einleuchtend vortragen, zu wenig Recht wiederfahren lässt. Nach meinen Begriffen ist Pope in seinem Versuch vom Menschen kein geringerer Dichter als Homer in seinen mit Recht bewunderten Schilderungen der Menschen und der Sitten. Man muss bedenken, was für erstaunliche Schwierigkeit es hat, Wahrheiten von der Art, wie die tiefen philosophischen Speculationen über die sittliche Beschaffenheit der Welt sind, sich einfach, hell und höchst faßlich vorzustellen. Wir treffen oft bei Pope, Haller, Juvenal, Horaz und anderen Dichtern kurze Denksprüche, Lehren und Bilder an, die uns eine Menge Gedanken, die wir lange sehr unbestimmt, verworren, dunkel und schwankend gefasst hatten, in einem überaus hellen Licht und in der höchsten Einfalt darstellen und die wir für bewunderungswürdige Schilderungen der Wahrheit halten müssen. Dass sie als ästhetische Gegenstände weniger geschätzt werden als poetische Schilderungen sichtbarer Gegenstände, kommt bloß daher, dass weniger Menschen im Stande sind, ihre Wahrheit einzusehen als die Wahrheit dieser anderen Schilderungen bekannterer Gegenstände.

 

______________

1 Währung bedeutet auch die völlige Richtigkeit des Inhalts der Metalle und Münzen. Währung, Wahrheit und Gewähre, sind Wörter von einer Stammwurzel.

2 Plutarch. Apopht.

 


 © textlog.de 2004 • 23.12.2024 14:55:20 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z