§ 2. Beeinflußbarkeit und Leichtgläubigkeit der Massen


Als einen der allgemeinen Charakterzüge bezeichneten wir die übermäßige Beeinflußbarkeit und wiesen nach, wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansammlung ist; woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefühle in einem bestimmten Sinne erklärt. So parteilos man sich die Masse auch vorstellt, so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung, der die Beeinflussung begünstigt. Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Übertragung augenblicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefühlsrichtung an. Bei allen Beeinflußten drängt die fixe Idee danach, sich in eine Tat umzuformen. Ob es sich darum handelt, einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern, die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit. Alles hängt von der Art des Anreizes ab, nicht mehr, wie beim alleinstehenden einzelnen, von den Beziehungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maß der Vernunft, das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann. So muß die Masse, die stets an den Grenzen des Unbewußten umherirrt, allen Einflüssen unterworfen ist, von der Heftigkeit ihrer Gefühle erregt wird, welche allen Wesen eigen ist, die sich nicht auf die Vernunft berufen können, alles kritischen Geistes bar, von einer übermäßigen Leichtgläubigkeit sein. Nichts erscheint ihr unwahrscheinlich, und das darf man nicht vergessen, wenn man begreifen will, wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten.*)

Die Entstehung von Legenden, die so leicht in den Massen umlaufen, ist nicht nur die Folge vollkommener Leichtgläubigkeit, sondern auch der ungeheuerlichen Entstellungen, welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschenansammlungen erfahren. Der einfachste Vorfall, von der Masse gesehen, ist sofort ein entstelltes Geschehnis. Sie denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten. Diesen Zustand verstehen wir leicht, wenn wir bedenken, welche sonderbaren Vorstellungsreihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft. Die Vernunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder, aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusätze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis. Die Masse ist unfähig, das Persönliche von dem Sachlichen zu unterscheiden. Sie nimmt die Bilder, die in ihrem Bewußtsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben, für Wirklichkeit.

Die Entstellungen, mit denen eine Masse ein Ereignis umformt, dessen Zeuge sie gewesen ist, scheinen unzählig und von verschiedener Art zu sein, da die Menschen, aus denen die Masse besteht, von sehr verschiedenem Temperament sind. Aber so ist es nicht. Infolge der Übertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen. Die erste Entstellung, die ein Glied der Gesamtheit vorbringt, formt den Kern des ansteckenden Einflusses. Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem erschien, war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden. Durch Beeinflussung und Übertragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommen.

So vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzinationen, die in der Geschichte so häufig sind und alle klassischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen, da es sich hier um Erscheinungen handelt, die von Tausenden von Menschen festgestellt wurden.

Die geistige Beschaffenheit der einzelnen, aus denen die Masse besteht, widerspricht nicht diesem Grundsatz. Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos. In dem Augenblick, da sie zu einer Masse gehören, werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfähig zur Beobachtung.

Diese Behauptung mag widersinnig klingen. Um sie zu beweisen, müßte man auf eine große Anzahl historischer Tatsachen zurückgreifen, und dazu würden mehrere Bände nicht genügen.

Da ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck unbewiesener Behauptungen lassen möchte, so will ich einige Beispiele anführen, die ich auf gut Glück aus der großen Anzahl, die man zitieren könnte, herausgreife.

 

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*) Wer noch die Belagerung von Paris mitgemacht hat, erlebte viele Fälle dieser Leichtgläubigkeit der Massen an die unwahrscheinlichsten Dinge. Ein brennendes Wachslicht in einem höheren Stockwerk galt sofort für ein Zeichen, das man den Belagerern geben wollte. Zwei Sekunden Überlegung würden bewiesen haben, dass man unmöglich aus einer Entfernung von mehreren Meilen dieses Kerzenlicht sehen kann.


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