Gefahren des Parlamentarismus


Trotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform, die die Völker bisher gefunden haben, um sich vor allem möglichst aus dem Joch persönlicher Tyrannei zu befreien. Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung, wenigstens für Philosophen, Denker, Schriftsteller, Künstler und Gelehrte, kurz für alle, die den Gipfel einer Kultur bilden.

Sie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zunehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit. Die erste Gefahr ist die notwendige Folge der Ansprüche und der Kurzsichtigkeit der Wählermassen. Wenn ein Parlamentsmitglied einen Antrag stellt, der offensichtlich demokratischen Anschauungen entspricht, z. B. auf Altersversorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage für Bahnwärter, Lehrer usw., so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Wählern nicht, sich den Anschein zu geben, als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahme geringschätzten. Sie wissen wohl, dass dadurch der Staatshaushalt stark belastet und die Auflegung neuer Steuern nötig werden wird. Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zögern. Während die Folgen der Ausgabenvermehrung in weiter Ferne liegen und für sie keine unangenehmen Wirkungen haben, könnten sich die Folgen einer ablehnenden Abstimmung schon am nächsten Tage, wenn sie vor die Wähler treten müssen, bemerkbar machen.

An diese erste Ursache für die Überspannung der Ausgaben reiht sich eine andre, nicht weniger gebieterische: die Verpflichtung, alle Ausgaben für rein örtliche Bedürfnisse zu bewilligen. Kein Abgeordneter kann sich ihnen widersetzen, weil sie ebenfalls Forderungen der Wähler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nötige für seinen Wahlkreis erlangen kann, wenn er den entsprechenden Forderungen seiner Kollegen zustimmt.*) Die zweite der oben erwähnten Gefahren, die unvermeidliche Beschränkung der Freiheit durch die Parlamente, ist zwar weniger sichtbar, aber doch Tatsache. Sie ist eine Folge der zahllosen, stets einschränkenden Gesetze, deren Auswirkungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und für die zu stimmen sie sich verpflichtet fühlen.

Diese Gefahr muß wohl unvermeidlich sein, denn selbst England, wo sich gewiß die vollkommenste Art der parlamentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhängigsten vom Wähler ist, vermochte ihr nicht zu entgehen. Herbert Spencer hatte in einer früheren Arbeit gezeigt, dass die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben müsse. In einer späteren Schrift. "Der Einzelne gegen den Staat", nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt über das englische Parlament folgendes:

"Seit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genommen, den ich voraussagte. Diktatorische Maßnahmen, die sich rasch vervielfachten, haben das ständige Bestreben, die persönliche Freiheit zu beschränken, und zwar in zwiefacher Weise: jedes Jahr wird eine immer größere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen, die der früheren Handlungsfreiheit des Bürgers Beschränkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen, die er früher nach Belieben begehen oder unterlassen konnte. Gleichzeitig haben immer drückendere Lasten, besonders örtliche Abgaben, von vornherein die Freiheit beschränkt, indem sie den Teil seines Einkommens, den er nach Belieben ausgeben konnte, verminderten und den Teil vergrößerten, der ihm weggenommen wurde, um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werden."

Diese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschränkung zeigt sich in allen Ländern in einer besonderen Weise, auf die Spencer nicht hingewiesen hat: Die Schaffung jener unzähligen gesetzlichen Maßnahmen allgemeinbeschränkender Art führt notwendig zur Erhöhung der Zahl, der Macht und des Einflusses der Beamten, die mit ihrer Durchführung beauftragt werden. Sie haben also alle Aussicht, die wahren Gebieter der Kulturländer zu werden. Ihre Macht ist um so größer, als nur die Beamtenkaste, als einzige, die unverantwortlich, unpersönlich und auf Lebenszeit angestellt ist, dem unaufhörlichen Machtwechsel entgeht. Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft, die härter ist als diese, die in dieser dreifachen Gestalt auftritt.

Die fortwährende Schaffung von Gesetzen und Beschränkungsmaßnahmen, die die unbedeutendsten Lebensäußerungen mit byzantinischen Förmlichkeiten umgeben, hat das verhängnisvolle Ergebnis, den Bereich, in dem sich der Bürger frei bewegen kann, immer mehr einzuengen. Als Opfer des Irrtums, dass durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert würden, nehmen die Völker nur drückendere Fesseln auf sich.

Sie nehmen sie nicht ungestraft auf sich. Gewohnt, jedes Joch zu tragen, kommen sie schließlich dahin, es "aufzusuchen, und büßen zuletzt alle Ursprünglichkeit und Kraft ein. Sie sind nur noch wesenlose Schatten, Automaten, willenlos, ohne Widerstand und Kraft.

Wenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet, muß er sie anderswo suchen. Mit der zunehmenden Gleichgültigkeit und Ohnmacht der Bürger muß die Bedeutung der Regierungen nur noch mehr wachsen. Sie müssen notgedrungen den Geist der Initiative, der Unternehmung und Führung besitzen, den der Bürger verloren hat. Sie haben alles zu unternehmen, zu leiten, zu schützen. So wird der Staat zu einem allmächtigen Gott. Die Erfahrung lehrt aber, dass die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark war.

Die fortschreitende Einschränkung aller Freiheiten bei gewissen Völkern, trotz einer Ungebundenheit, die ihnen Freiheit vortäuscht, scheint eine Folge ihres Alters und ebensosehr der Regierung zu sein. Sie ist ein Vorzeichen für die Entartung, der bisher noch keine Kultur entgehen konnte.

Wenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schlüsse zieht und nach den Anzeichen urteilt, die überall in Erscheinung treten, so sind mehrere unserer modernen Kulturen auf dieser Stufe des höchsten Greisenalters, das der Entartung vorangeht, angelangt. Bestimmte Entwicklungsformen scheinen für alle Völker unabwendbar zu sein, da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt. Es ist leicht, die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeichnen, und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit abgeschlossen werden.

 

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*) Die Zeitschrift "L'Economiste" gab in ihrer Nummer vom 6. April 1895 einen seltsamen Überblick über die Jahresunkosten, die die Interessen der Wähler verursachen, besonders die Eisenbahnen. Um Langayes (Stadt von 3 000 Einwohnern), die auf einem Berge liegt, mit Puy Zu verbinden, bewilligte man eine Bahn, die 15 Millionen kostete. Um Beaumont (3 500 Einwohner) mit Castel-Sarrazin zu verbinden, bewilligte man 7 Millionen. Die Verbindung des Dorfes Oust (523 Einwohner) mit dem Dorfe Seix (1 200 Einwohner) kostete 7 Millionen. Um Prades mit dem Marktflecken Olette (747 Einwohner) zu verbinden, gab man 6 Millionen, usw. Allein das Jahr 1895 verbrauchte 90 Millionen für Eisenbahnschienen, für die nicht das geringste allgemeine Interesse vorhanden ist. Andere Ausgaben, die ebenfalls Wählerbedürfnissen entspringen, sind nicht weniger schwerwiegend. Das Gesetz über die Altersversorgung der Arbeiter wird nach Aussage des Finanzministers im Jahre die Mindestsumme von 165 Millionen, nach Leroy-Beaulieu von der Akademie 800 Millionen kosten. Das ununterbrochene Anwachsen solcher Ausgaben muß notwendigerweise zum Bankrott führen. Viele Staaten Europas, Portugal, Griechenland, Spanien, die Türkei, sind dabei angelangt, andere werden bald soweit sein. Aber man braucht sich nicht viel darum zu kümmern, da das Publikum ohne großen Widerspruch nach und nach die Kürzung von vier Fünfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Länder angenommen hat. Derartige sinnreiche Bankrotte machen es also möglich, die gefährdeten Haushaltpläne wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Kriege, der Sozialismus, die wirtschaftlichen Kämpfe werden uns übrigens noch genug andre Katastrophen bringen, und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muß man sich damit begnügen, in den Tag hineinzuleben, ohne allzusehr an das Morgen zu denken, das sich unsrer Macht entzieht.


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