§ 1. Die unveränderlichen Grundanschauungen
(croyances fixes)


Es besteht ein enger Parallelismus zwischen den morphologischen und psychologischen Merkmalen der Lebewesen. Unter den morphologischen Merkmalen finden wir gewisse unveränderliche oder doch so wenig veränderliche Elemente, dass geologische Zeitalter nötig sind, um sie zu verändern. Neben diesen unveränderlichen, unreduzierbaren Elementen finden sich recht bewegliche, die durch das Milieu, die Kunst des Züchters oder Gärtners leicht so gewandelt werden können, dass sich dem oberflächlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergen.

Der gleichen Erscheinung begegnen wir in der sittlichen Welt. Neben den unveränderlichen seelischen Bestandteilen einer Rasse sind bewegliche und wechselnde Elemente vorhanden. Darum finden wir bei der Untersuchung der Anschauungen und Meinungen eines Volkes stets einen festen Grund, auf dem sich Anschauungen angesiedelt haben, die ebenso flüchtig sind wie der Sand, der die Felsen bedeckt.

Die Grundanschauungen und Meinungen der Massen bilden also zwei scharfgetrennte Gruppen. Zu der einen gehören die ständigen Grundgedanken, die mehrere Jahrhunderte überdauern und auf denen eine ganze Kultur beruht. So z. B. der feudale Gedanke, die Ideen des Christentums und der Reformation und heutzutage die nationalen Grundgedanken, die demokratischen und sozialen Ideen. Zur anderen gehören die wechselnden Ansichten des Augenblicks, die meistens aus allgemeinen Gedanken abgeleitet werden und die jedes Zeitalter entstehen und vergehen sieht: z. B. die Theorien, die zu bestimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen und die Romantik, den Naturalismus usw. hervorbrachten. So wandelbar wie die Mode, wechseln sie wie die kleinen Wellen, die auf der Oberfläche eines Sees unaufhörlich entstehen und vergehen.

Die Zahl der allgemeinen Grundanschauungen ist nicht groß. Ihr Entstehen und Vergehen bilden die Höhepunkte in der Geschichte jeder historischen Rasse. Sie bilden das eigentliche Gerüst der Kultur.

Eine flüchtige Meinung haftet leicht in der Massenseele, aber einen festen Glauben in ihr zu verankern, ist sehr schwer, ebenso schwer aber ist er wieder zu zerstören, wenn er sich einmal festgesetzt hat. Man kann ihn wohl nur um den Preis gewaltsamer Revolutionen ändern, und nur, wenn der Glaube seine Herrschaft über die Seelen fast ganz eingebüßt hat. Die Revolutionen helfen dann dabei, die Grundanschauung endgültig abzuwerfen, die man schon fast aufgegeben hatte, deren gänzliche Aufhebung aber durch die Macht der Gewohnheit verhindert wurde. Beginnende Revolutionen sind in Wahrheit schwindende Grundanschauungen.

Eine große Grundanschauung wird an dem Tage zum Tode verurteilt, an dem man anfängt, ihren Wert zu bestreiten. Da jede allgemeine Grundanschauung nur eine Einbildung ist, so kann sie nur bestehen, solange sie der Prüfung entgeht.

Aber selbst wenn eine Grundanschauung stark erschüttert ist, bewahren die Einrichtungen, die von ihr abgeleitet sind, ihre Macht und erlöschen nur langsam. Hat sie schließlich ihre Macht völlig eingebüßt, dann bricht alles zusammen, was von ihr getragen wurde. Es war noch keinem Volk vergönnt, seine Grundanschauungen zu ändern, ohne gleichzeitig dazu verurteilt zu sein, alle Bestandteile seiner Kultur umzuwandeln.

Es wandelt sie so lange um, bis es eine neue allgemeine Grundanschauung angenommen hat und lebt bis dahin notgedrungen in Anarchie. Die allgemeinen Grundanschauungen sind die notwendigen Stützen der Kulturen. Sie geben den Ideen ihre Richtung, und sie allein erwecken das Gewissen und erschaffen das Pflichtgefühl.

Die Völker haben es stets als nützlich empfunden, sich allgemeine Glaubensanschauungen zu bilden und instinktiv erfaßt, dass ihr Schwinden die Stunde des Niedergangs anzeigen würde. Der fanatische Kultus Roms war für die Römer der Glaube, der sie zu Herren der Welt machte. Dieser Glaube starb, und Rom ging zugrunde. Erst als die Barbaren, die Zerstörer der römischen Kultur, einige einheitliche Glaubensanschauungen gewonnen hatten, erreichten sie einen gewissen Zusammenhalt und konnten die Anarchie überwinden.

Mit gutem Grund waren also die Völker stets unduldsam bei der Verteidigung ihrer Überzeugungen. So tadelnswert diese Unduldsamkeit vom philosophischen Standpunkt ist, im Leben der Völker ist sie als eine Tugend anzusehen. Um den Grund zu allgemeinen Glaubensüberzeugungen zu legen oder sie aufrechtzuerhalten, hat das Mittelalter viele Scheiterhaufen errichtet, und so viele Erfinder und Neuerer, die der Folter entgangen waren, mußten in Verzweiflung sterben. Um solche Überzeugungen zu verteidigen, ist die Welt immer wieder umgestürzt worden, sind Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern gefallen und werden dort noch weiterhin fallen.

Wir haben schon gesagt, dass sich der Einführung einer allgemeinen Grundanschauung große Schwierigkeiten entgegenstellen; wenn sie aber endgültig Fuß gefaßt hat, ist ihre Macht lange Zeit unüberwindlich, und mag sie philosophisch noch so falsch sein, so drängt sie sich doch den erleuchtetsten Geistern auf. Haben nicht die Völker Europas seit fünfzehn Jahrhunderten religiöse Legenden, die bei näherer Betrachtung ebenso barbarisch *) sind wie der Moloch-Mythus, als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet? Der entsetzliche Widersinn des Mythus von einem Gotte, der sich für den Ungehorsam eines seiner Geschöpfe durch furchtbare Marter an seinem Sohne rächt, ist viele Jahrhunderte nicht bemerkt worden. Die größten Geister, wie Galilei, Newton, Leibniz, haben auch nicht einen Augenblick darüber nachgedacht, dass die Wahrheit solcher Legenden bezweifelt werden könnte. Nichts beweist schlagender die Hypnose, die durch allgemeine Grundanschauungen bewirkt wird, aber nichts zeigt auch besser die beschämenden Grenzen unseres Geistes.

Sobald der Massenseele eine neue Lehre eingepflanzt wurde, beeinflußt sie die Einrichtungen, die Künste und die Sitten. Ihre Herrschaft über die Seelen ist dann unumschränkt. Die Männer der Tat denken nur an ihre Verwirklichung, die Gesetzgeber nur an ihre Anwendung, Philosophen, Künstler, Schriftsteller beschäftigen sich nur damit, sie in verschiedene Formen zu übertragen.

Durch die allgemeinen Grundanschauungen haben sich die Menschen jedes Zeitalters mit einem Netz von Überlieferungen, Meinungen und Gewohnheiten umgeben, aus dessen Maschen sie nicht entwischen können und durch die sie einander immer etwas ähnlich werden. Der unabhängigste Geist denkt nicht daran, sich ihnen zu entziehen. Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen unbewußt, denn sie allein ist nicht zu bekämpfen. Tiberius, Dschingiskhan, Napoleon waren zweifellos furchtbare Tyrannen, aber Moses, Buddha, Jesus, Mohammed, Luther haben aus ihrem Grabe heraus eine nicht weniger tiefgehende Herrschaft über die Seelen ausgeübt. Ein Tyrann kann durch eine Verschwörung gestürzt werden, was vermag sie aber gegen einen wohlgefestigten Glauben? In ihrem heftigen Kampf gegen den Katholizismus ist unsere große Revolution trotz der scheinbaren Zustimmung der Massen und trotz der Zerstörungsmittel, die von ihr ebenso unerbittlich angewandt wurden wie von der Inquisition, unterlegen. Die einzigen wahren Tyrannen der Menschheit sind immer die Schatten der Toten gewesen oder die Einbildungen, die sie sich selbst geschaffen hat.

Ich wiederhole: Der philosophische Unsinn gewisser allgemeiner Grundanschauungen war nie ein Hindernis für ihren Triumph. Dieser Triumph scheint sogar nur dann möglich zu sein, wenn sie irgendwelchen geheimnisvollen Unsinn enthalten. Die offenbare geistige Armut der sozialistischen Lehren der Gegenwart wird nicht verhindern, dass sie sich der Massenseele einpflanzen. Ihre wahre Unzulänglichkeit im Vergleich zu jedem religiösen Glauben besteht einzig darin: Da das Glücksideal, das der Glaube in Aussicht stellte, nur in einem zukünftigen Leben verwirklicht werden sollte, so konnte niemand diese Verwirklichung bestreiten; da das sozialistische Glücksideal sich auf Erden verwirklichen soll, so wird die Nichtigkeit der Verheißungen sogleich bei den ersten Verwirklichungsversuchen an den Tag treten, und der neue Glaube wird jeden Einfluß verlieren. Seine Macht wird also nur bis zum Tage seiner Verwirklichung wachsen. Und deshalb wird die neue Religion, wie alle früheren, zunächst eine zerstörende Tätigkeit ausüben, ohne, wie sie, später eine schöpferische Rolle übernehmen zu können.

 

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*) Barbarisch im philosophischen Sinne, wohlverstanden. In Wirklichkeit haben sie eine ganz neue Kultur gegründet und Jahrhunderte lang den Menschen bezaubernde Traum- und Hoffnungsparadiese sehen lassen, wie er sie nie mehr kennen wird.


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