Die Massen und der Staatsmann
Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen — das ist zu schwierig geworden —, aber wenigstens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden will.
Die Massenpsychologie zeigt, wie außerordentlich wenig Einfluß Gesetze und Einrichtungen auf die ursprüngliche Natur der Massen haben und wie unfähig diese sind, Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen. Darf z.B. ein Gesetzgeber, der eine neue Steuer auflegen will, die theoretisch gerechteste wählen? Keinesfalls. Die ungerechteste kann praktisch für die Massen die beste sein, wenn sie am unauffälligsten und leichtesten in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden. Wenn sie täglich pfennigweise für Konsumartikel entrichtet wird, stört sie die Gewohnheiten nicht und beeinflußt sie wenig. Man lege an ihrer Stelle eine proportionale, auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Löhne oder anderen Einkommen, mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre, so wird sie heftigen Widerspruch erregen. An Stelle der täglichen Pfennige, die man nicht spürt, tritt nämlich eine verhältnismäßig hohe Geldsumme, die am Zahltag riesig groß erscheint und sehr nachdrücklich empfunden wird. Sie wäre nur dann unbemerkt verbraucht worden, wenn sie Pfennig für Pfennig zur Seite gelegt worden wäre; aber ein so wirtschaftliches Gebaren würde ein Maß von Voraussicht beweisen, dessen die Massen unfähig sind.
Dies Beispiel enthüllt sonnenklar ihre geistige Verfassung. Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen, aber die Gesetzgeber, welche die Massenseele nicht beachten, würden sie nicht verstehen. Die Erfahrung hat ihnen noch nicht genügend bewiesen, daß die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassen.
So ließe sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden. Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und ökonomische Erscheinungen, die ohne sie völlig unverständlich bleiben.
Selbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier befriedigte, verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden, denn es ist ebenso interessant, die Triebkräfte der menschlichen Handlungen zu enträtseln, wie die eines Minerals oder einer Pflanze.
Unser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Überblick, eine bloße Zusammenfassung unsrer Untersuchungen bieten können. Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen. Andere werden das Gebiet besser bearbeiten*). Heute ist es noch jungfräulicher Boden, den wir beackern.
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*) Die wenigen Autoren, die sich mit dem Studium der Psychologie der Massen abgeben, haben ihre Untersuchungen nur hinsichtlich der Verbrechen angestellt. Da ich diesem Stoffgebiet nur ein kurzes Kapitel gewidmet habe, so verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele: "Die verbrecherische Masse". Die letztere Arbeit enthält keinen einzigen neuen Gedanken des Autors, gibt aber eine Zusammenstellung von Tatsachen, die der Psychologe verwerten kann. Übrigens sind meine Schlußfolgerungen betreffs der Kriminalität und Moralität der Massen denen der beiden Autoren, die ich nannte, ganz entgegengesetzt.
Man wird in meinen verschiedenen Arbeiten, besonders in meiner Schrift "Die Psychologie des Sozialismus" einige Ergebnisse aus den Gesetzen finden, welche die Massenpsychologie beherrschen. Diese Gesetze lassen sich außerdem auf den verschiedensten Gebieten anwenden. Der Direktor des Königl. Konservatoriums in Brüssel, A. Gevaert, hat von den Gesetzen, die ich in einer Abhandlung über Musik darlegte, welche er treffend als "Massenkunst" bezeichnete, eine bemerkenswerte Anwendung gemacht. "Ihre beiden Schriften", schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Übersendung seiner Abhandlung, "haben mir die Lösung eines von mir früher als unlöslich betrachteten Problems gebracht: die erstaunliche Eignung jeder Masse, ein neues oder altes, ein einheimisches oder fremdes, ein einfaches oder zusammengesetztes Tonstück zu empfinden, vorausgesetzt, daß es schön gespielt wird, und daß die Musiker einen begeisterten Dirigenten haben." Herr Gevaert zeigt vortrefflich, warum "ein Werk, welches ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsamkeit ihres Zimmers unverständlich blieb, oft von einem jeder technischen Bildung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaßt wird". Ebenso ausgezeichnet erklärt er, weshalb diese ästhetischen Eindrücke keinerlei Spuren hinterlassen.