3. Die Geschworenen bei den Schwurgerichten
Da wir uns hier nicht mit allen Arten der Geschworenen befassen können, so werde ich mich nur mit den wichtigsten, den Beisitzern der Schwurgerichte, beschäftigen. Sie bieten uns ein vortreffliches Beispiel für die nicht namenlose, ungleichartige Masse. Wir finden hier die Beeinflußbarkeit, die Vorherrschaft der unbewußten Gefühle, die geringe Fähigkeit zum Denken, den Einfluß der Führer usw. Ihre Beobachtung wird uns Gelegenheit geben, bemerkenswerte Proben von Fehlern kennenzulernen, die von Leuten begangen werden, die mit der Psychologie der Gesamtheiten nicht vertraut sind.
Die Geschworenen sind zunächst ein Beispiel für die geringe Bedeutung, die den geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Wesen, aus denen sich eine Masse zusammensetzt, bei Entscheidungen zukommt. Wir haben gesehen, dass in einer beratenden Versammlung, die aufgefordert wird, ein Urteil abzugeben, die Intelligenz keine Rolle spielt, wenn es sich um eine Frage handelt, die nicht rein technischer Natur ist, und dass in einer Versammlung von Gelehrten und Künstlern über allgemeine Angelegenheiten Urteile abgegeben werden, die sich von denen einer Maurerversammlung kaum wesentlich unterscheiden. Zu manchen Zeiten traf die Verwaltung unter den Personen, die zu Geschworenen ernannt wurden, eine sorgfältige Auswahl; sie stammten aus den aufgeklärten Klassen der Lehrer, Beamten, wissenschaftlich Gebildeten usw. Heutzutage gehören die Geschworenen hauptsächlich den Kleinhändlern, Handwerksmeistern, Angestellten usw. an. Und zur großen Verwunderung der Fachschriftsteller zeigt die Statistik, dass die Entscheidungen ganz gleich bleiben, wie die Geschworenen auch zusammengesetzt sein mögen. Selbst die Juristen, die der Einrichtung der Schwurgerichte so feindlich gegenüberstanden, mußten die Richtigkeit dieser Feststellung anerkennen. Ein ehemaliger Schwurgerichtspräsident, Bernard des Glajeux, schreibt in seinen "Erinnerungen" darüber folgendes:
"Heute liegt die Auswahl der Geschworenen in Wirklichkeit in den Händen der Stadträte, die nach ihrem Belieben zulassen und ausscheiden und sich in der Hauptsache von politischen Verhältnissen und Wahlsorgen leiten lassen, die mit ihrer Stellung verbunden sind ... Die Mehrzahl der Gewählten besteht aus Kaufleuten von so geringer Bedeutung, dass man sie früher nicht zugelassen hätte, und aus Beamten bestimmter Verwaltungsbehörden. In der Rolle des Richters vereinigen sich alle Anschauungen mit allen Berufsarten, viele zeigen den Eifer der Neulinge, und Menschen, die den besten Willen haben, begegnet man in den einfachsten Ständen. Der Geist der Geschworenen hat sich nicht geändert, ihre Urteile sind sich gleich geblieben.''
Wir wollen aus diesem Satz die ganz richtigen Folgerungen, nicht aber die recht schwachen Erklärungen beibehalten. Diese Schwäche ist besonders erstaunlich, denn die Psychologie der Massen und folglich auch der Geschworenen scheint meistens den Anwälten wie den Richtern unbekannt gewesen zu sein. Den Beweis dafür liefert mir die Tatsache, die derselbe Autor anführt, dass einer der berühmtesten Rechtsanwälte des Schwurgerichts, Lachaud, ausnahmslos von seinem Recht Gebrauch machte, die gebildeten Mitglieder der Geschworenen abzulehnen. Die Erfahrung aber — und die Erfahrung allein — überzeugte ihn schließlich von der Zwecklosigkeit dieser Ablehnung. Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwälte haben, wenigstens in Paris, vollständig darauf verzichtet; und doch haben sich, wie des Glajeux bemerkt, die Urteile nicht geändert, "sie sind weder besser noch schlechter".
Wie alle Massen werden die Geschworenen sehr stark durch Gefühle und sehr wenig durch Beweisgründe beeinflußt. Ein Rechtsanwalt schreibt: "Sie können dem Anblick einer stillenden Frau oder der Vorführung der Waisen nicht widerstehen." "Eine Frau braucht nur angenehm zu sein", sagt des Glajeux, "so gewinnt sie das Wohlgefallen der Geschworenen."
Gegen Verbrechen, von denen sie selbst betroffen werden könnten und die überdies gerade für die Gesellschaft die furchtbarsten sind, zeigen sich die Geschworenen unerbittlich, andrerseits sind sie gegen die sogenannten Verbrechen der Leidenschaft sehr nachsichtig. Selten beurteilen sie Kindesmord unehelicher Mütter streng, und noch weniger das verlassene Mädchen, das seinen Verführer mit Vitriol überschüttet. Sie fühlen instinktiv sehr gut, dass diese Verbrechen für die Gesellschaft wenig gefährlich sind und dass in einem Lande, wo das Gesetz verlassene Mädchen nicht schützt, ihre Rache mehr Nutzen stiftet, indem sie künftige Verführer von vornherein abschreckt.*)
Wie alle Massen werden die Geschworenen durch Ansehen stark geblendet, und Präsident des Glajeux macht mit Recht darauf aufmerksam, dass sie ihrer Zusammensetzung nach zwar sehr demokratisch, ihren Neigungen nach aber sehr aristokratisch seien. "Name, Geburt, Reichtum, Ruhm, und die Anwesenheit eines bekannten Anwalts, alles Auszeichnende und Glänzende sind für den Angeklagten eine erhebliche Unterstützung."
Es muß die Hauptsorge eines guten Anwalts sein, auf die Gefühle der Geschworenen einzuwirken und, wie bei allen Massen, wenig zu begründen oder Beweisführungen nur in andeutender Form zu geben. Ein englischer Anwalt, der wegen seiner Erfolge am Schwurgericht berühmt war, hat dies Verfahren ausgezeichnet geschildert:
"Aufmerksam beobachtet er während seiner Verteidigungsrede die Geschworenen. Der Augenblick ist günstig. Mit Hilfe seines Spürsinnes und auch gewohnheitsmäßig liest der Anwalt die Wirkung jedes Satzes, jedes Wortes in den Mienen und zieht seine Schlüsse daraus. Es handelt sich vor allem darum, die Mitglieder herauszufinden, die im voraus für den Fall eingenommen sind. Der Verteidiger versichert sich ihrer im Handumdrehen, dann wendet er sich an die Mitglieder, die ungünstig gestimmt zu sein scheinen, und bemüht sich, zu erraten, warum sie gegen den Angeklagten sind. Das ist der schwierigste Teil der Arbeit, denn es kann außer dem Gerechtigkeitsgefühl noch unzählige Gründe geben, einen Menschen verurteilen zu wollen."
Diese wenigen Zeilen fassen die Absichten der Rednerkunst treffend zusammen und zeigen uns die Wertlosigkeit der eingelernten Rede, weil man jeden Augenblick, je nach dem erzielten Eindruck, die Ausdrucksweise ändern muß.
Der Redner braucht nicht alle Mitglieder des Gerichts auf seine Seite zu bringen, sondern nur die tonangebenden, die die Gesamtmeinung beeinflussen. Wie bei allen Massen gibt es auch hier eine kleine Anzahl von führenden einzelnen. "Ich habe die Erfahrung gemacht", sagt der oben erwähnte Anwalt, "dass im Augenblick der Urteilsfällung ein oder zwei energische Männer genügen, um die übrigen Geschworenen mitzureißen." Diese zwei oder drei Männer muß man durch geschickte Beeinflussung überzeugen. Zuerst und vor allem muß man ihnen gefallen. Der Massenmensch, dem man gefällt, ist schon beinahe überzeugt und gut vorbereitet, alle Gründe, die man ihm darlegt, für ausgezeichnet zu halten. In einer interessanten Arbeit über Lachaud finde ich folgende Anekdote:
"Man weiß, dass Lachaud, als er beim Schwurgericht arbeitete, während der ganzen Dauer seiner Verteidigungsreden zwei oder drei Geschworene, von denen er wußte oder fühlte, dass sie einflußreich, aber unzugänglich waren, nicht aus den Augen verlor. In der Regel gelang es ihm, die Widerspenstigen zu gewinnen. Aber einmal fand er in der Provinz einen, den er vergebens dreiviertel Stunden lang bearbeitete: den ersten auf der zweiten Bank, den siebenten Geschworenen. Es war zum Verzweifeln! Plötzlich mitten im leidenschaftlichen Redefluß hält Lachaud inne und wendet sich an den Vorsitzenden des Gerichtshofes mit den Worten: 'Herr Präsident, könnte man nicht den Vorhang dort vorn herunterlassen, den siebenten Herrn Geschworenen blendet die Sonne.' Der siebente Geschworene errötete, lächelte, dankte. Er war der Verteidigung gewonnen."
Verschiedene Autoren, und zwar sehr namhafte, haben in der letzten Zeit die Einrichtung der Schwurgerichte, den einzigen Schutz gegen die wirklich sehr häufigen Irrtümer einer aufsichtslosen Kaste, heftig bekämpft.**) Einige möchten, dass die Geschworenen nur aus den gebildeten Ständen gewählt würden. Aber wir haben schon festgestellt, dass in diesem Falle die Entscheidungen den jetzt gefällten gleichen werden. Andre, die sich auf die Irrtümer der Geschworenen berufen, möchten sie abschaffen und durch Richter ersetzen. Wie können sie aber vergessen, dass die Irrtümer, die den Geschworenen so oft vorgeworfen werden, stets zuerst von den Richtern begangen wurden; denn wenn der Angeklagte vor den Geschworenen erscheint, so wird er bereits von verschiedenen Richtern für schuldig gehalten: vom Untersuchungsrichter, vom Staatsanwalt, vom Anklagesenat. Und sieht man denn nicht, dass der Angeklagte seine einzige Aussicht, für unschuldig erklärt zu werden, einbüßte, wenn er schließlich von Richtern anstatt von Geschworenen abgeurteilt würde? Die Irrtümer der Geschworenen sind zuerst stets Irrtümer der Richter gewesen. An diese allein muß man sich halten, wenn man auf besonders ungeheuerliche Justizirrtümer, wie die Verurteilung des Dr. X ..., stößt, der auf die Anzeige eines halbidiotischen Mädchens, das den Arzt beschuldigte, er habe sie für dreißig Franken abortieren lassen, von einem wirklich recht beschränkten Untersuchungsrichter verfolgt wurde, und der ohne den Entrüstungsausbruch der Öffentlichkeit, der seine sofortige Begnadigung durch das Staatsoberhaupt zur Folge hatte, ins Gefängnis gewandert wäre. Die Ehrenhaftigkeit, die dem Verurteilten von all seinen Mitbürgern zuerkannt wurde, ließ die Ungeheuerlichkeit des Irrtums besonders offenbar werden. Selbst die Richter erkannten das, und doch taten sie aus Kastengeist alles mögliche, um die Unterzeichnung der Begnadigung zu verhindern. In allen solchen Fällen hören die Geschworenen, von technischen Einzelheiten, die sie nicht verstehen, verwirrt, naturgemäß auf die Staatsanwaltschaft, da sie sich sagen, dass der Fall schließlich von Richtern, die in allen Feinheiten bewandert sind, geprüft sei. Wer sind also die wahren Urheber des Irrtums: die Geschworenen oder die Richter? Darum wollen wir sorgfältig über unsere Schwurgerichte wachen. Sie bilden vielleicht die einzige Gattung der Masse, die durch keinen einzelnen zu ersetzen ist. Nur sie können die Härten des Gesetzes mildern, das, für alle gleich, im Prinzip blind sein muß und Sonderfälle nicht kennen darf. Der Richter, der nur den Wortlaut des Gesetzes kennt und für Mitleid unzugänglich ist, würde mit seiner Berufshärte den Raubmörder zu derselben Strafe verurteilen wie das arme Mädchen, das zum Kindesmord gedrängt wird, weil es von seinem Verführer verlassen und dem Elend preisgegeben ist, während die Geschworenen sehr wohl fühlen, dass das verführte Mädchen viel weniger schuld ist als der Verführer, der dem Gesetz entschlüpft, und dass es all ihre Nachsicht verdient.
Obwohl ich die Psychologie der Kasten so wie die der andern Massen sehr wohl kenne, kann ich mir keinen Fall denken, der mich, wenn ich eines Verbrechens angeklagt wäre, nicht vorziehen ließe, lieber mit Geschworenen als mit Richtern zu tun zu haben. Bei den ersten hätte ich große Aussicht, schuldlos erkannt zu werden, bei den letzteren nur sehr geringe. Wir haben die Macht der Massen zu fürchten, aber noch mehr die Macht gewisser Kasten! Die Massen lassen sich vielleicht überzeugen, die Kasten geben niemals nach.
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*) Nebenbei bemerkt, entbehrt diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsfeindlichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen, die mit richtigem Instinkt von den Geschworenen gemacht wird, keineswegs der Richtigkeit. Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar der Schutz der Gesellschaft gegen Verbrechen, nicht aber Rache sein. Nun sind aber unsere Strafgesetzbücher und besonders unsere Richter völlig von dem Rachegeist des alten, ursprünglichen Gesetzes erfüllt, und der Ausdruck "Sühne" (vindicta) wird noch täglich gebraucht. Der Beweis für diese Neigung der Richter ist die Weigerung vieler von ihnen, das vortreffliche Gesetz Beranger anzuwenden, welches die Strafe des Verurteilten aufschiebt, bis er rückfällig wird. Und doch kann kein Richter darüber im unklaren sein — denn die Statistik beweist es ja —, dass die Verbüßung der ersten Strafe fast unfehlbar den Rückfall nach sich zieht. Die Richter glauben, wenn sie einen Schuldigen freisprechen, die Gesellschaft sei ungerächt geblieben. Ehe sie das zulassen, schaffen sie lieber einen gefährlichen Rückfälligen.
**) Der Richterstand ist in der Tat der einzige Verwaltungszweig, dessen Maßnahmen keiner Überwachung unterstellt sind. Keine Revolution hat es fertiggebracht, dem demokratischen Frankreich jenes Habeas-corpus-Recht zu erringen, auf das England so stolz ist. Wir haben die Tyrannen verbannt, aber in jeder Stadt verfügt eine Obrigkeit nach Belieben über Ehre und Freiheit der Bürger. Ein unbedeutender Untersuchungsrichter, der die Universität kaum verließ, hat die empörende Macht, die angesehensten Bürger, gegen die er den bloßen Verdacht einer Schuld hegt, für den er riemand Rechenschaft schuldig ist, ins Gefängnis zu schicken. Er kann sie sechs Monate, ja sogar ein Jahr unter dem Vorwande der Untersuchung dort festhalten und sie schließlich ohne Entschädigung oder Entschuldigung entlassen. Der Vorladungsbefehl ist dem "lettre de cachet", dem königlichen geheimen Haftbefehl, gleichwertig, nur mit dem Unterschied, dass der letztere, der mit Recht der alten Monarchie so zum Vorwurf gemacht wird, nur sehr bedeutenden Persönlichkeiten zur Verfügung stand, während er sich heute in den Händen einer ganzen Bürgerklasse befindet, die keineswegs für die aufgeklärteste und unabhängigste gehen kann.