4. Die Wählermassen


Die Wählermassen, d. h. die Gesamtheiten, die zur Wahl der Inhaber gewisser Ämter berufen sind, bilden ungleichartige Massen; da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten, nämlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten, so lassen sich bei ihnen nur einige der früher beschriebenen Merkmale beobachten. Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfähigkeit, dann der Mangel an kritischem Denken, die Erregbarkeit, Leichtgläubigkeit und Einfalt der Massen. Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluß der Führer und die Wirkung der bereits angeführten Triebkräfte: Behauptung, Wiederholung, Nimbus und Übertragung.

Sehen wir nun zu, wie sie zu gewinnen sind. Ihre Psychologie läßt sich nach bewährter Methode klar ableiten. Als erste Eigenschaft muß der Bewerber einen Nimbus haben. Persönlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden. Talent und selbst Genie sind keine Vorbedingungen für den Erfolg.

Folglich ist der persönliche Nimbus des Bewerbers, um sich ohne weitere Erörterungen durchsetzen zu können, von ausschlaggebender Bedeutung. Daß die Wähler, die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen, so selten einen ihrer Leute als Vertreter wählen, erklärt sich daraus, dass ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben. Sie wählen einen ihresgleichen fast nur aus nebensächlichen Gründen, etwa um einen hochgestellten Manne, einem mächtigen Arbeitgeber entgegenzutreten, weil der Wähler Tag für Tag die Abhängigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet, einen Augenblick seiner Herr zu sein.

Aber der Besitz des Nimbus genügt für den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges. Der Wähler hält darauf, dass man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt. Der Kandidat muß übertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen, die phantastischsten Versprechungen zu machen. Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmähen. Den gegnerischen Bewerber wiederum muß man zu vernichten suchen, indem man durch Behauptung, Wiederholung und Übertragung zu beweisen sucht, er sei der ärgste Schuft, von dem jeder wisse, dass er etliche Verbrechen begangen habe. Selbstredend ist es unnötig, etwas vorbringen zu wollen, was einem Beweis ähnelt. Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie, so wird er sich durch Beweise zu rechtfertigen suchen, anstatt auf verleumderische Behauptungen einfach mit andern ebenso verleumderischen zu antworten, und wird dann keine Aussicht auf Sieg haben.

Das geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein, weil seine Gegner es ihm später entgegenhalten könnten, aber sein mündliches Programm kann nicht übertrieben genug sein. Die außerordentlichsten Reformen dürfen in Aussicht gestellt werden. Für den Augenblick erzielen diese Übertreibungen große Wirkung und für die Zukunft verpflichten sie zu nichts. Der Wähler kümmert sich später tatsächlich nie darum, ob der Gewählte sein Glaubensbekenntnis, dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung für das Zustandekommen der Wahl war, auch wirklich befolgt hat.

Wir erkennen hier alle Mittel der Überredung wieder, die oben beschrieben wurden. Wir werden sie auch in der Wirkung der Worte und Redewendungen wiederfinden, auf deren mächtige Herrschaft wir bereits hingewiesen haben. Der Redner, der die Massen zu behandeln weiß, führt sie nach Belieben. Ausdrücke wie: der verderbliche Kapitalismus, die gemeinen Ausbeuter, der bewundernswerte Arbeiter, die Sozialisierung der Besitztümer u. a. rufen stets die gleiche, schon etwas verbrauchte Wirkung hervor. Der Bewerber aber, der eine neue Redewendung entdeckt, die jeder bestimmten Bedeutung ermangelt und sich daher den verschiedensten Wünschen anzupassen vermag, erzielt unfehlbar Erfolg. Die blutige spanische Revolution von 1873 kam durch eins jener magischen, vieldeutigen Worte zustande, das jeder nach seiner Weise deuten kann. Ein zeitgenössischer Autor hat über ihre Entstehung in so denkwürdiger Weise berichtet, dass sie wiedergegeben zu werden verdient:

"Die Radikalen hatten entdeckt, dass eine einheitliche Republik eine verkappte Monarchie sei, und ihnen zu Gefallen hatten die Cortes einstimmig die verbündete Republik ausgerufen, ohne dass auch nur einer der Abstimmenden hätte sagen können, worüber abgestimmt wurde. Aber diese Redewendung bezauberte die Welt, man war wie im Rausch, im Delirium. Die Herrschaft der Tugend und des Glücks war auf Erden gegründet worden. Ein Republikaner, dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbündeten versagt wurde, fühlte sich durch einen tödlichen Schimpf beleidigt. Auf den Straßen ging man mit den Worten: 'Salud y republica federal!' aufeinander zu. Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbstherrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an. Was war die 'verbündete Republik'? Die einen verstanden darunter die Gleichberechtigung der Provinzen, Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der einheitlichen Verwaltung, andre wieder dachten an die Beseitigung aller Obrigkeit, den baldigen Beginn der großen sozialen Abrechnung. Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschränkte Selbständigkeit der Gemeinden und forderten die Bildung von zehntausend unabhängigen Gemeinden in Spanien, die sich selbst ihre Gesetze geben und gleichzeitig Polizei und Heer aufheben würden. Bald sah man, dass sich der Aufstand in den südlichen Provinzen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf ausbreitete. Sobald eine Gemeinde ihr 'pronunciamento' erlassen hatte, war ihre erste Sorge, Telegraphen und Eisenbahnen zu zerstören, um alle Verbindungen mit der Umgegend und mit Madrid abzuschneiden. Der elendeste Flecken wollte in seiner eigenen Küche kochen. Der Föderalismus hatte einem rohen, mordbrennerischen und mörderischen Kantonalismus Platz gemacht, und überall wurden blutige Saturnalien gefeiert."

Was den Einfluß der logischen Beweisgründe auf den Geist der Wähler anbelangt, so dürfte man nie den Bericht über eine Wahlversammlung gelesen haben, um nicht darüber im klaren zu sein. Man tauscht dort Behauptungen, Beschimpfungen, manchmal auch Püffe aus, doch niemals Gründe. Es wird nur dann einen Augenblick ruhig, wenn ein würdiger Teilnehmer umständlich ankündigt, dass er an den Kandidaten eine jener verwickelten Fragen richten wolle, die die Zuhörer immer sehr belustigen. Die Zufriedenheit der Gegner dauert aber nicht lange, denn die Stimme des Vorredners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher übertönt. Als Schilderung der Grundform öffentlicher Versammlungen sind folgende Berichte anzusehen, die aus hunderten ähnlicher herausgegriffen, den Tageszeitungen entnommen sind:

"Nachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat, einen Vorsitzenden zu wählen, bricht der Sturm los. Die Anarchisten stürzen auf den Schauplatz, um sich des Rednerpultes im Sturm zu bemächtigen. Die Sozialisten verteidigen ihn energisch, man stößt einander, schimpft sich gegenseitig Spion, Bestochener und dergleichen ... ein Bürger zieht sich mit einem blauen Auge zurück.

Endlich ist mitten im Tumult, so gut es geht, der geschäftsführende Ausschuß eröffnet, und die Rednerbühne bleibt dem Genossen X.

Der Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los, die ihn unterbrechen und schreien: 'Trottel, Bandit, Schurke!' usw. Genosse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie, wonach die Sozialisten 'Idioten' oder 'Possenreißer' sind."

"Die Allemanistische Partei hatte gestern abend im Saale der Kaufmannschaft, in der Rue Faubourg-du-Temple, eine große Versammlung für das Fest der Arbeiterschaft am 1. Mai einberufen ... Das Losungswort war: Stille und Ruhe.

Genosse G ... bezeichnet die Sozialisten als 'Trottel' und 'Schwindler'.

Diese Worte veranlassen Redner und Zuhörer zu schimpfen, sie geraten ins Handgemenge; Stühle, Bänke, Tische spielen ihre Rolle usw. usw."

Man glaube ja nicht, diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Wählern eigen und abhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung. In jeder beliebigen Versammlung, und bestünde sie auch nur aus akademisch Gebildeten, nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an. Ich habe gezeigt, dass die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen, dafür werden wir jederzeit den Beweis finden. Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht über eine Versammlung, die ausschließlich aus Studenten bestand:

"Je weiter der Abend vorschritt, um so heftiger wurde der Tumult. Ich glaube nicht, dass ein einziger Redner zwei Sätze ohne Unterbrechung vorbringen konnte. Fortwährend ertönten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von allen Seiten zugleich; man klatschte Beifall, man pfiff; erregte Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen verschiedenen Anwesenden, Stöcke wurden drohend geschwungen, man stampfte im Takt auf den Boden. Wüstes Geschrei verfolgte die Störenfriede: Hinaus! Auf die Tribüne!

Herr C ... überschüttet die Vereinigung mit niederträchtigen und gehässigen Beiwörtern wie: ungeheuerlich, gemein, käuflich und rachsüchtig und erklärt, er wolle sie vernichten usw."

Man könnte sich fragen, wie sich unter solchen Bedingungen die Meinung eines Wählers bilden kann? Aber um eine derartige Frage zu stellen, müßte man sich einer erstaunlichen Täuschung über den Grad von Freiheit hingeben, dessen sich eine Gesamtheit erfreut. Die Massen haben nur eingeflößte, nie vernünftige Meinungen. Diese Meinungen und Abstimmungen der Wähler liegen in den Händen der Wahlausschüsse, deren Führer meistens einige Schankwirte sind, die großen Einfluß auf die Arbeiter haben, denen sie Kredit gewähren. "Wissen Sie, was ein Wahlausschuß ist?" schreibt Scherer, einer der eifrigsten Verteidiger der Demokratie, "ganz einfach der Schlüssel zu unsren Einrichtungen, das Hauptstück der politischen Maschinerie. Frankreich wird heute von den Ausschüssen regiert."*)

Es ist denn auch nicht allzu schwer, die zu beeinflussen, wenn der Bewerber nur einigermaßen annehmbar ist und über genügende Mittel verfügt. Nach dem Eingeständnis der Geldgeber genügten drei Millionen, um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen. Das ist die Psychologie der Wählermassen. Sie ist die gleiche wie die der andern Massen. Weder besser noch schlechter. 

 

___________________

*) Die Ausschüsse, mögen sie nun Klubs, Syndikate usw. heißen, bilden vielleicht die furchtbarste Gefahr, die uns durch die Macht der Massen droht. Sie sind tatsächlich die unpersönlichste und daher drückendste Form der Gewaltherrschaft. Die Leiter der Ausschüsse, die im Namen einer Gesamtheit zu sprechen und zu handeln scheinen, sind aller Verantwortung enthoben und können sich alles erlauben. Der grausamste Tyrann hätte niemals gewagt, von den Verbannungen auch nur zu träumen, die vom Revolutionsausschuß angeordnet wurden. Sie hatten den Konvent verkleinert und regelrecht zugeschnitten, sagt Barras. Solange er in ihrem Namen sprechen durfte, war Robespierre unumschränkter Herr. An dem Tage, als sich der schreckliche Diktator selbstsüchtig von ihnen trennte, schlug die Stunde seines Untergangs. Herrschaft der Massen heißt Herrschaft der Ausschüsse, also der Führer. Einen härteren Despotismus kann man sich nicht vorstellen.


 © textlog.de 2004 • 23.11.2024 04:52:52 •
Seite zuletzt aktualisiert: 09.12.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright