Öffentliche Meinung und Presse


Aus diesen mannigfachen Ursachen ist eine ganz neue Erscheinung der Weltgeschichte hervorgegangen, die für die heutige Zeit sehr bezeichnend ist; ich meine die Unfähigkeit der Regierungen, die öffentliche Meinung zu lenken.

Einst, und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns, wurde die öffentliche Meinung von der Tatkraft der Regierung, dem Einfluß einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen. Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluß eingebüßt, und die Zeitungen spiegeln nur die öffentliche Meinung wider. Und was die Staatsmänner anbelangt, so denken sie nicht daran, sie zu lenken, sondern suchen ihr nur zu folgen. Ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede Festigkeit.

Die Meinung der Massen zeigt also das Bestreben, immer mehr zum entscheidenden Lenker der Politik zu werden. Sie bringt es heute schon fertig, Bündnisse vorzuschreiben, wie wir es vor kurzem bei dem russischen Bündnis sahen, das fast ausschließlich aus einer Volksbewegung hervorging.

Es ist ein sehr eigenartiges Zeichen unserer Zeit, dass Päpste, Könige und Kaiser sich dem Brauch der Befragung durch Vertreter der Tageszeitungen unterwerfen, um dem Urteil der Massen ihre Gedanken über eine bestimmte Angelegenheit zu unterbreiten. Einst konnte man sagen, Politik sei nicht Sache des Gefühls. Kann man das heute noch, wenn man sieht, dass sie sich von den Einfällen der unbeständigen Massen, die keine Vernunft kennen und nur vom Gefühl beherrscht werden, leiten läßt?

Die Presse, die einstige Leiterin der öffentlichen Meinung, hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen müssen. Gewiß besitzt sie noch eine bedeutende Macht, aber doch nur, weil sie lediglich die Widerspiegelung der öffentlichen Meinung und ihrer unaufhörlichen Schwankungen ist. Sie ist zum einfachen Informationsmittel geworden und hat darauf verzichtet, irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten. Sie geht allen Veränderungen des öffentlichen Geistes nach, sie ist dazu verpflichtet, weil sie sonst Gefahr läuft, durch die Maßnahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren. Die alten, ehrwürdigen und einflußreichen Blätter von ehedem, deren Aussprüche von der vergangenen Generation noch ehrfurchtsvoll wie Weissagungen angehört wurden, sind verschwunden oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden, die von unterhaltenden Neuigkeiten, Gesellschaftsklatsch und geschäftlichen Anzeigen umrahmt sind. Welches Blatt wäre heute reich genug, seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu können? Und. welches Gewicht könnten diese Meinungen bei Lesern haben, die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern? Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück durchzusetzen. Sie kann schaden, aber nicht nützen. Die Blätter sind sich der Nutzlosigkeit jeder Eigenmeinung so bewußt, dass sie allmählich die literarischen Kritiken eingeschränkt haben und sich damit begnügen, den Namen des Buches nebst zwei, drei Zeilen Empfehlung zu bringen, und in zwanzig Jahren wird es sich mit der Theaterkritik wohl ebenso verhalten.

Das Aushorchen der Meinungen ist heute die Hauptsorge der Presse und der Regierungen. Welche Wirkung dies Ereignis, jener Gesetzentwurf, jene Rede hervorrief, ist wissenswert für sie. Das ist nicht leicht, denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen. Man kann es erleben, dass sie das, was sie gestern bejubelten, heute mit dem Bannfluch belegen.

Das Endergebnis dieses gänzlichen Mangels an Meinungsrichtung und der gleichzeitigen Auflösung der Grundüberzeugungen ist die völlige Zerbröckelung aller Anschauungen und die wachsende Gleichgültigkeit der Massen wie der einzelnen gegen alles, was ihren unmittelbaren Vorteil nicht greifbar berührt. Wissenschaftliche Lehren, wie der Sozialismus, haben wirklich überzeugte Anhänger nur in den ungebildeten Schichten, z. B. unter Berg- und Fabrikarbeitern. Der Kleinbürger, der halbgebildete Handwerker, sind zu mißtrauisch geworden.

Die Entwicklung, die seit dreißig Jahren so verläuft, ist überraschend. In früheren, gar nicht so weit zurückliegenden Zeiten, hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung. Sie wurden von der Annahme einiger Grundüberzeugungen abgeleitet. Allein aus der Tatsache, dass man Monarchist war, ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft bestimmte, scharfumgrenzte Ansichten, während der Republikaner ganz entgegengesetzte für sich in Anspruch nahm. Ein Monarchist wußte genau, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt, und ein Republikaner wußte nicht weniger genau, dass er von ihm abstammt. Der Monarchist mußte mit Abscheu, der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen. Gewisse Namen, wie Robespierre, Marat, mußten mit andächtiger Miene, andre wieder, wie Cäsar, Augustus, Napoleon, nur unter Schmähungen ausgesprochen werden. Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche Geschichtsauffassung.

Heute verliert jede Meinung durch Erörterung und Zergliederung ihren Nimbus, ihre Stützpunkte werden schnell unsicher, und es bleiben nur wenige Ideen übrig, die uns zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen könnten. Der moderne Mensch verfällt immer mehr der Gleichgültigkeit.

Wir wollen diese allgemeine Erschöpfung der Anschauungen nicht allzusehr bedauern. Dass sie eine Entartungserscheinung im Völkerleben ist, läßt sich nicht bestreiten. Wohl haben die Seher, Apostel, Führer, mit einem Wort die Überzeugten, eine ganz andere Gewalt als die Verneiner, Kritiker und Gleichgültigen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass eine einzige Anschauung, die genügend Nimbus gewänne, um sich durchzusetzen, mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt erlangen würde, dass sich alsbald alle vor ihr beugen müßten, und die Zeit der freien Meinungsäußerung wäre dann für lange Zeit vorbei. Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren, wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren, aber sie haben auch wilde Launen. Ist eine Kultur reif, ihnen in die Hände zu fallen, so ist sie zu vielen Zufällen ausgesetzt, als dass sie noch lange Zeit überdauern könnte. Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann, so ist es nur die außerordentliche Veränderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleichgültigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grundanschauungen.


 © textlog.de 2004 • 26.12.2024 11:57:40 •
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